Acacia 01 - Macht und Verrat
warfen sich flach auf den Bauch. Alle flehten sie um Gnade an. Sie taten ihre Verehrung in einem Gesang kund, der den Rhythmus der Glöckchen übertönte. Sie liebten Maeben. Sie fürchteten sie. Der Priester schalt sie heftig aus, machte sie nieder, rief ihnen die Torheit der Menschen ins Gedächtnis, fragte sie, ob sie verstünden, dass die Himmelsstrafe mit der Schnelligkeit eines Adlerschreis vom Himmel über sie käme. Die misstönende Musik wurde lauter, und der Raum pulsierte und bebte von den Fragen und Antworten und dem Stöhnen und Flehen der im Staub liegenden Andächtigen.
Als sie über die Köpfe der Priester hinweg auf die Würdenträger hinunterblickte, auf das gemeine Volk dahinter, die Frauen und Kinder an den Rändern – alle in ehrfürchtigen Verneigungen vor ihr tief gebeugt, lange Huldigungen, die sie nicht beenden konnten, ehe sie es ihnen gestattete -, dachte Mena, dass sie vielleicht tatsächlich Maeben sei. Sie war immer schon Maeben gewesen. Es hatte lediglich einige Zeit gedauert, bis sie es herausgefunden hatte. Dies hier war jetzt ihr Zuhause. Das war ihre Rolle. Sie war Maeben, die Kinderräuberin, die Rache aus den Lüften. Sie war es, der die Menschen ihre Ängste preisgaben und ihre Verehrung schenkten.
Sie rief, die Gläubigen sollten sich erheben und sie wieder anschauen. Wie immer, wenn Maeben aus ihr sprach, übertönte ihre klare Stimme mühelos die anderen Geräusche. In solchen Momenten war sie niemals jemand anderes gewesen. Als sie die Schwingen ausbreitete und mit einem gellenden Schrei ins Leere sprang, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass jede Hand unter ihr sich ausstrecken würde, um sie aufzufangen. Und wenn jemand aus solcher Höhe in die Tiefe springen konnte, ohne Furcht abzustürzen, konnte man dann nicht von ihm sagen, er habe das Geheimnis des Fluges ergründet? Genau wie ein Vogel, genau wie eine Göttin.
33
Was für ein seltsames Land, dachte Hanish, als er vom Balkon seines Arbeitszimmers das schimmernde, flirrende Innenmeer betrachtete. Er hatte es immer schon unnatürlich gefunden, dass ein Land es so gut mit den Menschen meinte. Ein dermaßen gesundes, dermaßen günstiges Klima erschien ihm gleichsam ungesund. Dies war ein Land, in dem der grundlegende Kampf, den Hanish für lebensnotwendig hielt, abgeschafft worden war oder niemals existiert hatte. Zu jeder Jahreszeit konnte man in mildes Wetter hinaustreten; schlimmstenfalls war es kühl, oder es fielen ein paar Schneeflocken. Das kälteste Wetter, das Acacia zu bieten hatte, war nichts, was ein Mein-Kind nicht eine ganze Nacht lang nackt überstanden hätte. Auf dem Mein-Plateau reichte es schon aus, wenn man in der Wildnis einen einzigen Ausrüstungsgegenstand vergessen hatte, einen einzigen Fehler machte, wenn der Wind plötzlich drehte oder man eine Spur für die Wolfsrudel hinterließ … es gab so viele Dinge in jener Welt, die einem gefährlich werden konnten, dass man sich keine Nachlässigkeit erlauben durfte. Halbherzigkeit wurde nicht geduldet. Acacia war vollkommen anders. Dieses Wohlgefühl, dieser Luxus … Nun, vielleicht lag darin auch eine Gefahr. Man musste sich nur klarmachen, dass die Gefahr ebenso eine weiche wie eine harte Seite hatte.
»König Hanish Mein, es wundert mich, dass ein Mann in Eurer Stellung einem frei zugänglichen Raum den Rücken zukehrt.«
Hanish kannte den Sprecher. Er hatte auf ihn gewartet, hätte die Stimme jedoch überall augenblicklich erkannt. Das näselnde Gewinsel, die Selbstzufriedenheit darin, die mit einem Geräusch wie ein Schnurren ausgefüllten Pausen zwischen bestimmten Worten waren unverwechselbar. Er wappnete sich innerlich, ließ den Ärger in sich aufwallen und wartete, bis er wieder verflogen war, damit ihm äußerlich nichts anzumerken war. Bei Männern wie Sire Dagon war es lebenswichtig, die eigenen Gedanken zu verbergen und allen Angeboten mit Skepsis zu begegnen.
»Ich bin kein König«, sagte er und wandte sich um. »Bitte, ich ziehe es vor, Häuptling zu bleiben. Ich bin nur zufällig jetzt auch der Oberhäuptling der Bekannten Welt. Und was meine persönliche Sicherheit angeht, so sind nicht alle Paläste so lebensgefährlich wie die der Gilde.«
»Hmm … da habe ich aber etwas anderes gehört«, meinte der Gildenmeister. Obwohl er recht groß gewachsen war, wirkte er linkisch und gebrechlich, als reiche das Muskelgewebe kaum aus, um seinen Körper zu stützen. Den länglichen Kopf hatte er mit einer Kapuze bedeckt,
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