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Acacia 01 - Macht und Verrat

Acacia 01 - Macht und Verrat

Titel: Acacia 01 - Macht und Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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nach einer Weile spürte sie den Sand unter ihren Füßen. Das Wasser um sie herum war warm und unbewegt. Die Brandung war nicht weit entfernt, doch sie hatte sie hinter sich gelassen und konnte am Ufer einzelne Bäume unterscheiden. Mehr noch, sie sah Rauchfahnen und Strohdächer und ein Boot, das am Strand entlangfuhr. Sie erinnerte sich an den durchdringenden Schmerz in der Schulter, doch der Arm hatte sich wieder eingerenkt, und das dumpfe Pochen im Gelenk nahm sie kaum wahr.
    Als sie loswatete, merkte sie, dass ihr linker Arm einen Gegenstand hinter sich herzog, ein klobiges Gewicht im Wasser. Sie hatte die Hand um einen Lederriemen gekrallt. Das hieß, der Riemen hatte sich um ihr Handgelenk gewickelt, und die Hand war bläulich angelaufen und geschwollen. Als sie den Arm hob, tauchte das Langschwert ihres Beschützers aus dem Wasser auf. Der Riemen, der sich um ihr Handgelenk gewunden hatte, war die Schlinge, mit der man es sich über den Rücken hängte. Sie hatte sich an dem Schwert festgeklammert, nicht an einem Teil des Bootes. Wahrscheinlich hatte sie es eine ganze Weile festgehalten, doch es waren die verknoteten Riemen, die dafür gesorgt hatten, dass es bei ihr blieb, als fürchte sich die Waffe selbst vor der Tiefe und hätte sich geweigert, sie loszulassen.
    Und so erreichte sie die Insel mit dem Schwert eines Kriegers in der Hand, eine zwölfjährige Waise, von allen Menschen getrennt, die sie jemals gekannt hatte. Was noch von ihren Kleidern übrig war, klebte ihr in Fetzen am Leib. Ihr Haar war wirr und zerzaust. Die Dorfbewohner, die sich am Strand versammelten und sie anstarrten, hatten dergleichen nie zuvor gesehen. Es schien, als habe sie das Meer ohne Boot überquert. Als sie den Mund aufmachte, sprach sie eine fremde Sprache. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Ein Mythos war geboren.
    Als sie in Ruinat eintraf, war ihr eine aberwitzige Geschichte vorausgeeilt, die sie erst später verstehen sollte. Ihr Erscheinen ließ sich offenbar nur mit einer seltsamen Mischung aus Logik und Aberglaube erklären. Die Dorfbewohner hatten angefangen, untereinander zu tuscheln. Hatte nicht Vaharinda gesagt, Maeben in menschlicher Gestalt habe blassblaue Augen, genau wie dieses Mädchen? Hatte er ihr Haar nicht als fein bezeichnet, und so dünn wie Wolkenschleier? Und hatte ihre Haut nicht die Farbe hellen Sandes? Nun gut, das Mädchen war etwas dunkler, ein bisschen jedenfalls, doch alles in allem waren die Übereinstimmungen überzeugend. Sie brauchten eine neue Maeben, und zwar schon seit geraumer Zeit, doch die Priester hatten noch kein geeignetes Mädchen gefunden. Für gewöhnlich wurde sie in ihrem Volk geboren. In diesem Fall hatte sich die Göttin in einer noch wahreren Gestalt offenbart. Ihr Erscheinen entsprach nicht in allen Einzelheiten dem Mythos, doch einige Dinge übersah man, andere schmückte man aus, und weitere Einzelheiten dichtete man hinzu. Irgendwann lernte Mena, die Legende der Wahrheit vorzuziehen. Ihr gefiel die Macht, die ihr das verlieh, das Recht auf Zorn, ihre Stellung als unglückliches Götterkind, ungeeignet für die Freuden, die andere für selbstverständlich hielten, aber unerlässlich, um das Leben zu erhalten. Etwas Besonderes.
    Als sie neun Jahre später auf die Plattform über der Menge der Gläubigen trat, zweifelte niemand daran, dass sie genau das war. Sie starrten zur ihr hinauf. Dort stand sie, beleuchtet vom Fackelschein in dem düsteren Raum. In ihrer gefiederten Pracht, umhüllt von Federn in fünfzig verschiedenen Farben und mit den großen, gebogenen Krallen an den Händen, stolzierte sie hin und her. Die Augen, die die Menschen hinter der Schnabelmaske hervor durchdringend anblickten, sahen alles. Von ihrem Scheitel ragten Stacheln empor, ein irrwitziger, wilder Kopfschmuck. Sie war furchterregend schön und bedrohlich, ein Albtraum, der mitten unter ihnen lebte, ein Wesen, teils Raubvogel, teils Mensch, teils Gottheit. Wenn sie wollte, hätte sie auf sie niederfahren und fürchterliche Rache an ihnen nehmen können, das wusste sie. Die Fähigkeit, Gewalt zu üben, lag tief in ihrem Innern, schlummerte neben ihrem Herzen.
    Der zweithöchste Priester verkündete das Erscheinen der Göttin. Er hielt den Gläubigen ihre Nichtigkeit vor Augen. Im verabredeten Moment reckte Mena die Arme über den Kopf, sodass die gefiederten Stoffbahnen wallten und flatterten. Alle Köpfe neigten sich dem Boden entgegen. Einige Gläubige fielen auf die Knie. Andere

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