Acacia 01 - Macht und Verrat
gebläht, dass Mena schon fürchtete, sie könnten sich aus dem Wasser heben und fortfliegen wie ein Kinderdrache mit gerissener Schnur.
Im Wellental waren sie einen Moment allein. Dann hatten sie wieder Gesellschaft. Das andere Boot schoss über den Wellenrücken auf sie zu, der Bug tauchte zischend ins glatte Wasser ein. Der Verfolger schleuderte den Stock – jetzt offenkundig ein Speer – mit solcher Gewalt, dass er beinahe aus dem Boot gestürzt wäre. Der Speer flog ihnen entgegen und durchbohrte die Brust ihres Beschützers, als gehöre er genau dorthin. Der Mann ließ das Ruder los und legte die Hände um den Speerschaft. Er versuchte nicht, ihn herauszuziehen, schien jedoch sein Gewicht abstützen zu wollen. Er hustete einen Blutschwall hervor, dann langte er mit einer Hand hinter sich, zog sich zum Bootsrand und kippte über das Dollbord. Er stürzte ins Wasser und verschwand.
Das Boot schwenkte richtungslos herum und legte sich auf die Seite. Ein Wasserschwall schwappte herein, dann richtete es sich wieder auf und drehte sich erneut. Mena warf sich auf den Bauch, um nicht von dem Baum getroffen zu werden. Das Segel flatterte wie ein verängstigter Vogel, blähte sich aber nicht mehr. Mena wusste nicht, was sie tun sollte. Verängstigt blickte sie zu dem zu knatterndem Leben erwachten Segeltuch empor. Dann spürte sie einen ungewohnten Ruck – das Boot war irgendwo angestoßen. Sie setzte sich jäh auf.
Das andere Boot war neben ihr, die beiden Bootsrümpfe krachten wie bei einem Kampf gegeneinander. Der fremde Seemann sprang geschickt an Bord. Er maß sie mit seinen Blicken, kam aber nicht näher. Er hielt eine Leine in der Hand, mit der er die beiden Boote locker zusammenband. Einen Moment lang verschwand er aus ihrem Blickfeld, dann sah sie, wie er in der Schultertasche des Beschützers wühlte. Was wollte er? Was hatte er mit ihr vor? Was würde er ihr antun? Sie hatte keine Ahnung, doch auf die Einzelheiten kam es auch nicht an. Auf jeden Fall stand ihr Schreckliches bevor. Zunächst merkte sie gar nicht, dass sie eine Waffe gefunden hatte. Mit beiden Händen hielt sie das Heft des Langschwerts ihres Beschützers umklammert. Sie zog es aus dem Staufach hervor, doch es war zu schwer, um es hochzuheben. Sie bekam es nicht einmal aus der Scheide heraus, deren Ende über die Bootsplanken schleifte. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt.
Überraschenderweise wandte ihr der Mann den Rücken zu. Er zog an der Leine, dann sprang er wieder in sein Boot hinüber. Die beiden Bootsrümpfe krachten erneut zusammen. Er löste den Knoten der Leine, die ihr Boot mit dem seinen verband. Offenbar hatte er nicht das geringste Interesse an ihr.
»Was tut Ihr da?«, rief Mena.
Der Soldat hielt inne und sah sie an. Die Leine hatte er einmal um die Klampe neben seinem Fuß gelegt. Offenbar hatte er es vermeiden wollen, mit ihr zu reden, doch jetzt, da sie ihn angesprochen hatte, fühlte er sich gezwungen, ihr zu antworten. »Ich will Euch nichts zuleide tun, Prinzessin«, rief er und übertönte das Getöse des Windes und der Wellen. »Was hier geschehen ist, geht nur diesen Mann und mich etwas an. Ich hatte Streit mit ihm.«
»Ihr wisst, wer ich bin?«
Der Mann nickte.
»Warum habt Ihr ihn getötet? Was habt Ihr mit mir vor?«
»Wir hatten einen … einen Streit. Mit Euch habe ich gar nichts vor.«
Sie wurden von einer Woge emporgetragen, und vorübergehend war alles ein einziges Chaos. Als Mena das Gesicht des Mannes wieder sehen konnte, sagte sie: »Ihr wollt mich hier zurücklassen, damit ich sterbe?«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ihr werdet nicht sterben. Die Strömung trägt Euch nach Osten. Sie läuft durchs Vumu-Archipel wie durch ein Sieb. Auch ohne Segel werdet Ihr in ein paar Tagen Land sehen. Dort leben Menschen. Alles Weitere liegt bei Euch.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mena mit furchtsam erhobener Stimme.
Im Blick des Mannes lag leiser Spott. »Ihr seid nicht die Einzige mit einer Geschichte. Was hier passiert ist, war meine und seine Geschichte.« Er deutete verächtlich mit dem Kinn auf das Wasser. »Ich habe eine alte Schuld beglichen.«
»Seid Ihr ein Feind meines Vaters?«
»Nein.«
»Dann seid Ihr sein Untertan! Ich befehle Euch, mich nicht im Stich zu lassen.«
»Euer Vater ist tot, und ich befolge keine Befehle mehr.« Er warf ihr die lose Leine zu. »Prinzessin, ich weiß nicht, weshalb Euer Vater euch hierherbringen ließ, aber die Welt hat sich unwiederbringlich
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