Acacia 01 - Macht und Verrat
machten und dieses oder jenes seltsam oder reizend fanden. Rhrenna fuhr immer wieder mit den Fingern über die Tischplatten und suchte nach Staub. Sie trugen ihre neue Vornehmheit so aufdringlich zur Schau, dass es Corinn ärgerte, doch auch das ließ sie sich nicht anmerken. Ihre Hauptwaffe gegen diese Menschen war eine innere Verachtung. Geringschätzung hielt sie aufrecht, und sie hegte und pflegte sie wie ein Gärtner die dornige Schönheit eines Rosenbuschs.
Das Großartigste an dem Jagdhaus war die Aussicht. Jeder Raum, der auf das Jagdrevier des Königs hinausging, hatte einen Balkon, von dem aus man das sich nach Norden erstreckende grüne Laubdach des Waldes sehen konnte, hier und dort von nacktem Fels durchbrochen. Wind fuhr über die Baumwipfel wie Böen übers schäumende Meer. Die ursprüngliche Schönheit des Anblicks verschlug ihr den Atem. Dieser Teil schien ganz und gar nicht so zu sein wie ihre Kindheitserinnerungen. Sie erinnerte sich nur noch an die Angst, die sie angesichts des unermesslichen Grüns und des Schattens unter den Bäumen empfunden hatte, in dem sich Oger, Waldghule und Wolfsbären verstecken mochten. Es stimmte, sie verspürte noch immer die vage Bedrohung all dieser Wesen, doch jetzt fand sie es eher anregend. Es erinnerte sie an die Bilder, die Igguldans Schilderung des Nordwaldes heraufbeschworen hatte.
Am Abend speiste sie im großen Saal an Hanishs Tisch. Die Gesellschaft zählte etwa dreißig Personen, und ungefähr die gleiche Zahl von Dienern umsorgte die Gäste und eilte zwischen Speisesaal und Küche hin und her. Für Corinns Geschmack wurde zu viel Wild gereicht, nichts als Rehbraten und Wildschwein, Blutkuchen und Leberpastete. Sie tat nicht viel mehr, als das Essen auf dem Teller hin und her zu schieben. Eines der Dinge, die sie an solchen Anlässen verabscheute, war die ständige Gefahr, dass man sie als eine Art Vertreterin alles Acacischen in eine Unterhaltung verwickelte. Anfangs hatte sie den Köder jedes Mal geschluckt und sich leidenschaftlich über die Errungenschaften ihres Volkes ausgelassen, doch damit hatte sie nie die gewünschte Wirkung erzielt. Entweder war sie sich wie eine Närrin vorgekommen, weil ihre Erinnerung nicht mit den unbestreitbaren Tatsachen übereinstimmte, mit denen die anderen ihr begegneten, oder sie hatte den Triumph der Mein über ihr Volk nur umso größer erscheinen lassen. In letzter Zeit ging sie solchen Situationen nach Möglichkeit aus dem Weg. Heute jedoch wurde sie immer wieder ins Gespräch verwickelt. Larken hätte jede der Fragen, die an sie gerichtet wurden, besser beantworten können als sie, doch anscheinend erinnerte sich niemand mehr daran, dass auch er einmal ein Acacier gewesen war.
»Corinn, das Wandgemälde auf dem Gang, was hat das zu bedeuten?«
»Welches?«
»Das große, das aussieht – das aussieht wie die ganze Welt, so groß und mit so vielen Einzelheiten. Aber alles ist um diese eine Figur herum angeordnet, die wie ein Knabe aussieht. Ihr wisst schon, welches ich meine.«
Ja, Corinn kannte das Bild. Sie erwiderte, es stelle die Welt zu Zeiten Elenets dar. Mehr sagte sie nicht, doch auf weitere Nachfragen hin erklärte sie, das Bild stelle die Welt dar, nachdem der Schöpfer sich von ihr abgewandt habe. Mehr wisse sie nicht darüber.
»So ein seltsamer Glaube«, meinte eine junge Frau namens Halren. »Ihr glaubt doch, euer Gott habe euch verlassen, nicht wahr? Er verachtet euch. Er verschmäht eure Hingabe, dennoch hat ihm euer Volk seit vielen Jahrhunderten halbherzig gehuldigt. Einerseits sagt ihr: Gott existiert, und er hasst mich, andererseits tut ihr das alles mit einem Achselzucken ab, macht weiter wie bisher und versucht nicht einmal, sein Wohlwollen zurückzugewinnen. Seht Ihr nicht, wie unsinnig das ist?«
Corinn rutschte auf ihrem Stuhl herum, warf einen raschen Blick auf Larken und murmelte, darüber habe sie noch nicht nachgedacht.
»Wieso fragt Ihr sie überhaupt?«, sagte ein Mädchen aus Rhrennas Gefolge. »Sie ist schließlich keine Gelehrte – nicht wahr, Corinn?«
Die Prinzessin war sich nicht sicher, ob die Bemerkung freundschaftlich oder als Kränkung gemeint war. Das Blut schoss ihr in die Wangen.
»Wäre ich bei den Tunishni in Ungnade gefallen, würde ich alles tun, um ihre Gunst zurückzugewinnen«, sagte Halren mit einem verstohlenen Blick auf Hanish. »Aber zum Glück habe ich das Gefühl, sie sind recht zufrieden mit mir. Mit uns allen, unserem Häuptling sei
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