Acacia 01 - Macht und Verrat
Dank.«
Diese Bemerkung trug nicht dazu bei, das Rot aus Corinns Wangen zu vertreiben. Sie betrachtete Halren eingehend, die silbrigen Glitzersteine auf ihrer Stirn und ihr blasses Gesicht. »Wie lange seid ihr schon ›gesegnet‹? Seit neun Jahren? Das ist ein Husten im Vergleich zur langen Herrschaft der Akaran.« Corinn hätte vielleicht etwas noch Schärferes gesagt – etwas, das sie anschließend bereut hätte -, doch Hanish suchte sich just diesen Moment aus, um das allgemeine Interesse auf sich zu ziehen.
»Das Argument der Prinzessin hat etwas für sich«, sagte er mit nachdenklichem Blick. »Corinn, kennt Ihr die Geschichte vom Kleinen Kilish? Der Kleine Kilish war ironischerweise ein wahrer Hüne. Er war Bauer und fertigte eine riesige Sense an, die nur er allein benutzten konnte. Er schwang sie gern in weitem Bogen und mähte mit einem Streich zahllose Halme nieder. Dann schmiedete er eine zweite Sense, tanzte durch die Weizenfelder und tat mit jedem Streich die Arbeit von zehn Männern. Er wurde in der ganzen Gegend berühmt. Er musste sich mit anderen im Mähen messen, ging aber stets als unangefochtener Sieger hervor. Schon bald wollte sich niemand mehr mit ihm messen.«
Hanish schwieg einen Moment, als ein Diener ihm einen sauberen Teller vorsetzte. Dann fuhr er fort und erzählte, eines Tages sei ein Fremder aufgetaucht, ein kleiner, staubbedeckter Mann mit boshaften Augen. Er war ein Seelenernter und hatte eine Art Maschine gebaut, die bereits den größten Teil der Welt abgeerntet hatte. Es handelte sich um einen großen Rahmen auf Rädern, der ein Feld von einer Seite zur anderen überspannte. Entlang des Rahmens waren kleine Menschenfiguren angeordnet, mit Scharniergelenken ausgestattet und ausgesprochen lebensecht, jedoch aus Eichenholz gemacht. Jedes dieser Menschlein hielt eine Sense in der Hand. Als die Leute das sahen, lachten sie. Was für ein Riesenspielzeug sollte das sein? Wozu waren Menschen aus Holz gut? Der Seelenernter jedoch kannte sich ein wenig in der Gottessprache aus. Er flüsterte Zaubersprüche und raubte denen, die ihn auslachten, die Seelen. Jeder der Holzfiguren pflanzte er eine solche Seele ein. Dies erweckte sie zum Leben. Sie schwangen ihre Sensen wie richtige Menschen. Der Seelenernter versetzte seinem Maultier einen Schlag, und das Tier zog das Gerät über das Feld. Die Holzmenschlein arbeiteten für ihn, und binnen Augenblicken hatte er mehr Getreide gemäht als der Kleine Kilish an einem ganzen Tag.«
Ein anderer Bediensteter wollte dem König nachschenken, doch Hanish winkte ihn ungeduldig fort. Offenbar störte es ihn, dass ihm ständig aufgewartet wurde. »Die Leute staunten«, fuhr er fort. »Sie sagten einhellig, er habe den Wettstreit gewonnen und die Ehre gebühre ihm. Der Kleine Kilish aber verabscheute die Maschine und deren Erbauer. All das Getue ärgerte ihn maßlos. Warum zollten sie einem so schändlichen Ding Beifall?«
»Einen Augenblick lang haben sie die verlorenen Seelen vergessen«, meinte Halren.
»Bemerkten sie denn die seelenlosen Gestalten nicht, die unter ihnen standen? Ehe er es recht bedacht hatte, schwang der Kleine Kilish die Sense und trennte dem Seelenernter den Kopf säuberlich von den Schultern. Er fiel zu Boden und plapperte noch eine ganze Weile weiter, bevor die Zunge in dem Kopf begriff, dass alles verloren war. Der Kleine Kilish blickte sich um, denn er fürchtete, man werde ihn einen Mörder und Verbrecher heißen und verbannen. Doch die Menschen schickten ihn nicht fort. Sie jubelten. Sie sagten: ›Soll nur Kilish unser Getreide ernten, denn er ist stark und hat es nicht nötig, Seelen zu rauben!‹ Und so geschah es.«
Hanish zeigte mit einer Handbewegung an, dass er nicht mehr zu erzählen habe. Mehrere Anwesende lobten seinen Vortrag. Halren strahlte, als habe Hanish die Geschichte eigens für sie erzählt. Doch der Häuptling schaute weiterhin Corinn an. »Bei uns erzählt man sich diese Geschichte schon seit vielen, vielen Jahren. Ihr versteht doch, was sie bedeutet, oder?«
»Ihr habt gesagt, der Kleine Kilish sei ein wahrer Hüne gewesen, aber ich vermute, dass mindestens eines seiner Körperteile gar nicht so groß war«, erwiderte Corinn. »Daher rührte bestimmt auch sein Name. Einem Mann, den man den Kleinen nennt, sollte man nicht trauen. Kein Mann hat es gern, wenn man einen Teil von ihm für klein hält. Das verbittert ihn, macht ihn ungerecht und kleinlich …«
»Corinn, Ihr habt so eine …«, setzte
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