Acacia 01 - Macht und Verrat
er einen von ihnen direkt ansah. Bewegte er die Augen, glichen sie wieder den verwitterten Steinen, für die er sie zuerst gehalten hatte, eiförmig und uralt. So saß er umgeben von geisterhaften Steinwesen da, die alle nur Gesichter hatten, wenn er sie anstarrte, Masken, die nur zeitweise lebendig wirkten.
Vergebt uns, aber wir müssen es wissen … Besitzt Ihr das Buch der Sprache des Schöpfers?
Wiederum formte sich dies erst als Bedeutung in seinem Kopf, die er zu Sätzen ordnen musste. Der Ursprung der Botschaft war ein Kollektiv von Stimmen, doch Aliver hatte sich bereits ein wenig darauf eingestellt. Er setzte zu einer Antwort an: »Das Buch der …« Doch die Worte klangen ungeheuerlich, wie das Knirschen von Felsen, als hätte er sie aus vollem Hals gebrüllt. Er konnte sehen, dass die Gestalten es genauso empfanden. Sie schwankten von ihm zurück wie Wasserpflanzen, wenn eine Welle über sie hinweggeht.
Plötzlich hatte derjenige, der von Anfang an bei ihm gesessen hatte, die Hand auf seiner Schulter. Unser König, bitte sprecht nicht so. Sprecht mit Euren Gedanken. Denkt, was Ihr uns mitteilen wollt, und übermittelt uns den Gedanken.
Die Bitte klang seltsam, doch Aliver wusste, dass er ihre Gedanken bereits empfangen hatte. Deshalb war es hier auch so still. Deshalb hatte es den Anschein gehabt, als formten sich die Worte der Steingestalten erst in seinem Kopf. Er bemühte sich, eine Antwort zu formulieren; jetzt fürchtete er, jeder Gedankensplitter, all seine Irrtümer und Unsicherheiten könnten den anderen übermittelt werden. Als was für ein Wirrkopf würde er sich erweisen! Doch sie warteten, ruhig, mit reglosen Mienen, hungrig. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, und es war klar, dass sie keinen Zugang zu seinen Gedanken hatten, wenn er es nicht wollte.
Schließlich formte er im Geist einen Satz, dachte ihn mit großer Klarheit und sandte ihn nach außen. Was ist das für ein Buch?
Die Gesichter, die ihn anstarrten, wogten erneut, doch diesmal schwankten sie ihm entgegen. Die Antwort stammte nicht von einem einzelnen Verstand. Das Buch, teilten sie ihm mit, sei Das Lied von Elenet . Elenet habe es selbst niedergeschrieben, und darin sei die Sprache des Schöpfers Wort für Wort erklärt.
Bitte , sagten sie, zeigt es uns.
Aliver saß daraufhin eine Weile schweigend da. Was ging hier vor? Ein Teil von ihm hätte sich gern selbst geohrfeigt, bis er aus diesem Traum erwachte. Ein anderer Teil von ihm fragte sich, ob diese Wesen aus dem Reich des Nachtodes stammten und ihm den Empfang bereiteten, wie er Neuankömmlingen stets zuteilwurde. Es fühlte sich an, als wollten sie von ihm das Geheimnis erfahren, wie sie ins Leben zurückkehren könnten, Wissen, von dem er wusste, dass er es nicht besaß. Jenseits von alldem jedoch hatte er einen anderen Gedanken. Er drängte sich an allem anderen vorbei, und Aliver verlieh ihm Gestalt.
Seid ihr die Santoth?
Die ihn umringenden Köpfe – inzwischen waren es wohl hundert oder zweimal so viel, und es wurden immer mehr – nickten in einer einzigen Bewegung. Die Steinmünder spalteten sich zu einem Lächeln.
Dies ist das Wort, das uns bezeichnet , antworteten sie im Chor.
Na schön, dachte Aliver. Das ist also das Wort, das euch bezeichnet. Aber beim Schöpfer, was ist mit euch geschehen? Diese Gedanken behielt er für sich, und die im Grinsen erstarrten Gesichter ließen nicht erkennen, ob sie sie aufgefangen hatten. Sie warteten einfach ab, was als Nächstes käme. Er fragte sich, ob seine Kräfte wohl dafür ausreichen würden. Sollte er nicht etwas essen? Trinken? Doch sein Körper bereitete ihm keinerlei Ungemach. Er war nicht mehr hungrig oder ausgetrocknet, obwohl er sich nicht mehr erinnern konnte, wann er zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte. Er schaute sich um und machte weiter, so gut er konnte. Dies alles überstieg sein Begriffsvermögen. Irgendwo musste er einfach anfangen.
Das Lied von Elenet. Erzählt mir mehr davon.
Seiner Bitte kamen sie bereitwillig nach. Später vermochte Aliver nicht zu sagen, wie lange die Unterhaltung mit den Santoth gewährt hatte. Das Gespräch ging weniger hin und her, als dass es eine Spirale beschrieb. Er nahm die neuen Erkenntnisse nicht in linearer Reihenfolge auf. Doch als er erst einmal die Einzelteile zusammengefügt hatte, stand ihm eine Geschichte wie aus einer Legende vor Augen. Es war eine Geschichte, hätte er früher behauptet, die der Phantasie müßiger Geister entsprungen war, die
Weitere Kostenlose Bücher