Acacia 01 - Macht und Verrat
sich die Zeit vertreiben und die Übel der Welt wegerklären wollten. Dies hätte er in seiner Jugend gesagt. Doch von dem Moment an, da er Steine aufrecht umhergehen sah, lag seine Jugend unwiderruflich hinter ihm. Folgendes erfuhr er von den Santoth:
Das Lied von Elenet war eine Enzyklopädie der Gottessprache. Es war ein Buch, in dem die gesprochene Wahrheit der ganzen Welt geschrieben stand. Trotz seiner vielen Schwächen und der gewaltigen Fehler, die er bei der Ausübung der Hexerei beging – diese Bezeichnung charakterisierte die Anmaßung, sich die göttliche Sprache aneignen zu wollen, wohl am treffendsten -, war Elenet äußerst wissbegierig und zeichnete alles, was er in Erfahrung brachte, peinlich genau auf. Wie die Legenden berichteten, lebte er zu einer Zeit, da der Schöpfer auf Erden wandelte. Er folgte der Gottheit auf Schritt und Tritt. Er lauschte ihr und erlernte die Lieder in der Sprache der Schöpfung. Jedes Wort, das er dem Schöpfer von den Lippen stahl, schrieb er in einer selbst erdachten Schrift nieder. Für die wenigen, die ihn zu lesen verstanden, vermittelte der Text präzise Anweisungen für die Anwendung von Magie. Er war ein Handbuch für Form und Beschaffenheit der Schöpfung; so gesehen, war nie ein gefährlicheres Dokument verfasst worden, weder vorher noch hinterher.
Als Elenet diese Welt verließ, um andere zu erkunden, ließ er das Buch in der Obhut seiner Santoth-Jünger. Er sagte nicht, wohin er ginge oder warum, doch wie zuvor der Schöpfer verschwand auch er von der Erde. Das Buch wurde von Generation zu Generation weitergereicht, von einem Gottessprecher zum nächsten. Damals waren die Santoth die Hüter des Wissens. Könige und Prinzen herrschten über die Welt; die Santoth hielten mit ihrem Zauber das Gewebe zusammen und halfen, das Chaos zu mildern, nach dem die Menschen anscheinend strebten. Dies war eine heilige Verantwortung, und eine Ewigkeit lang gebrauchten sie die Gottessprache allein zum Nutzen der Bekannten Welt. Dies änderte sich jedoch, als ein junger Santoth namens Tinhadin zum Hüter des Buches wurde.
Er verwahrte es an seiner Brust , berichteten die Santoth Aliver, und teilte es nicht mit uns.
Tinhadin hatte Gefallen gefunden an der Macht, die das Buch verlieh. Er studierte es eingehend und hielt die anderen Santoth immer häufiger davon fern. Er stieg zum obersten Santoth auf und wurde viel mächtiger als jeder Einzelne von ihnen. Schließlich war er mächtiger als alle anderen Santoth zusammen. Da er den Text verwahrte, hatte nur Tinhadin Zugang zu den akkuraten Übersetzungen, zur exakten Aussprache und zur Bedeutung jedes einzelnen Wortes der Sprache des Schöpfers. Schon die kleinste Abweichung konnte die Wirkung der Magie beeinträchtigen, sie schwächen oder auf unerwünschte Weise verändern.
Gleichwohl liebten die anderen Santoth Tinhadin, denn er war einer der ihren. Er teilte Wissen mit ihnen, doch mehr und mehr gelangten die Worte des Schöpfers nur durch ihn zu ihnen. Als er sich daran machte, die Welt neu zu gestalten, halfen sie ihm. Er sagte, er wolle der Welt Frieden bringen. Es gebe zu viel Chaos, zu viel Leid, die Gefahr, dass die Menschen wieder zu Tieren würden, sei zu groß. Die anderen Santoth halfen Tinhadin dabei, um die Kontrolle über die Welt zu kämpfen. Doch ehe sie sich versahen, hatte Tinhadin sie überflügelt. Er setzte sich selbst eine Krone aufs Haupt und löste sich aus ihrer Gemeinschaft.
Das aber gereichte ihm nicht zur Freude , sagten die Santoth. Vielmehr wurde es zu einer großen Last.
Wie die gewöhnlichen Menschen vor ihm, so fürchtete auch Tinhadin, die gewonnene Macht wieder zu verlieren. Zudem erschöpfte es ihn, wie vollkommen er die Sprache der Schöpfung verkörperte. Er war ein Zauberer mit der Macht, die Welt zu verändern, indem er lediglich den Mund öffnete. Doch es fiel ihm schwer, diese Macht zu bezähmen. Stell dir vor , sagten die Santoth, du bräuchtest nur den Mund aufzumachen, um die Beschaffenheit der Welt um dich herum zu verändern .
Tinhadin wurde zu mächtig, die Magie wurde zu sehr ein Teil seines Verstandes. Bisweilen veränderte er die Welt allein dadurch, dass er in der Gottessprache dachte. Manchmal gebrauchte er die Sprache im Traum und stellte beim Aufwachen fest, was er damit angerichtet hatte. Da wandte er sich gegen die übrigen Santoth. Er begann, seine Magie zu hassen. Er wollte sich davon befreien, doch das konnte er in einer Welt, in der noch andere Zauberer tätig
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