Acacia 01 - Macht und Verrat
jede Stunde waren eine Bestätigung und eine Herausforderung für ihre Behauptungen.
Schließlich kamen beide Völker überein, sich an den Schöpfer zu wenden. Mit Gebeten, Opfern und Zeremonien baten sie ihn kundzutun, welches Volk ihm mehr bedeute. Sie wollten, dass er zwischen beiden Völkern wähle, auf dass alle Welt wisse, wen er bevorzuge. Der Schöpfer aber gab ihnen keine Antwort. Zumindest nicht durch ein Zeichen, das beide Seiten auf die gleiche Weise gedeutet hätten. Und so begannen sie zu kämpfen, um die Angelegenheit selbst zu klären.
Obwohl dies der erste Krieg zwischen Völkern war, erlernten sie dabei sämtliche Scheußlichkeiten, die die Menschen zum Kriegführen jemals benötigen sollten. Die Basharu gewannen schließlich die Oberhand. Die Cularashen flohen aus Talay und segelten zu einer Insel, die in der Mitte eines großen Meeres gelegen war. Sie nahmen viele Dinge mit, unter anderem auch Akaziensamen. Den streuten sie auf der ganzen Insel aus, denn sie wollten sich heimisch fühlen. Seitdem lebten sie auf dieser Insel.
Die Bezeichnung Cularashen , sagte Nualo, geriet in Vergessenheit. Auch der Name der Basharu. Jetzt nennt man dieses Volk – die besiegten Cularashen – Acacier. Und Ihr, Prinz, seid einer von ihnen.
Wie kann das sein? , erwiderte Aliver. Wir sind ganz anders als die Talayen. In vielerlei Hinsicht … Er meinte damit Unterscheidungsmerkmale wie Hautfarbe, Gesichtsform und Körperbau. Doch er zögerte, diesen Gedanken fortzuführen. Etwas in ihm sträubte sich dagegen.
Nualo verstand ihn gut. Er sagte, der Schöpfer sei erzürnt über die Torheit der Menschen gewesen. Er habe den Krieg und die Gräuel, die in seiner geliebten Schöpfung begangen wurden, verabscheut. Da die Menschen glaubten, sie wären so verschieden voneinander, wollte er die Unterschiede noch größer machen. Er verdrehte die Zungen der Menschen, sodass sie fortan unterschiedlich sprachen, auf dass die Mundart des einen Landes dessen Nachbarn wie sinnloses Geplapper in den Ohren klinge. Einige Menschen ließ er in der Sonne braten, während andere in der Kälte bleich und welk wurden. Er verlängerte Nasen oder flachte sie ab, machte einige Menschen größer, die anderen kleiner, versenkte die Augen in tiefen Höhlen oder rückte sie an den Rand des Gesichts und stellte sie schräg, kräuselte das Haar oder ließ es glatt herabhängen. Der Schöpfer wollte herausfinden, ob sie die scheinbare Vielfalt durchschauen würden. Doch das taten sie nicht. Schon nach kurzer Zeit fanden die Menschen sich mit ihrer Verschiedenheit ab, und Zwietracht wurde alltäglich. Und dies war, zusätzlich zu Elenets Verrat, ein weiterer Grund, weshalb der Schöpfer sich voller Abscheu von der Welt abwandte. Seitdem hatte er nichts mehr mit ihr zu schaffen gehabt.
Alle Völker haben denselben Ursprung? , fragte Aliver.
Alle Völker der Bekannten Welt , antwortete Nualo. Dass sie dies vergessen haben, war das zweite Verbrechen der Menschheit. Unter den Folgen haben wir noch immer zu leiden.
Aliver würde einige Zeit brauchen, um diese ungewohnte Weltsicht zu verinnerlichen. Sein eingefleischter Stolz lehnte sich gegen die Vorstellung auf, die Acacier könnten ein besiegter, vertriebener talayischer Volksstamm sein. Sein Leben lang hatte er die acacische Überlegenheit als naturgegeben betrachtet. Zwar hatte er in den vergangenen neun Jahren Mühe gehabt, seine talayischen Altersgenossen in jedem Wettkampf zu übertreffen, doch das hatte er sich selbst zugeschrieben. Er genügte den Anforderungen seines Volkes nicht. Das war es gewesen, was ihn dazu gedrängt hatte, sich noch mehr anzustrengen, sich zu stählen, wie ein Krieger zu kämpfen und einen Laryx zu töten.
Er war sich seiner eigenen Schwächen so sicher gewesen, dass er tagtäglich danach getrachtet hatte, sie zu verbergen. Nichts von alledem hatte seine Überzeugung zu erschüttern vermocht, dass die äußeren Unterschiede zwischen den Menschen ebenso unbestreitbare innere Verschiedenheiten widerspiegelten. Nualo und die anderen Santoth zogen ihm diese Überzeugung unter den Füßen weg, sodass er auf einem Meer ungeahnter Möglichkeiten trieb. Aus Gründen, die ihm nicht völlig klar waren, machte ihm dies mehr zu schaffen als die übrigen Enthüllungen der Santoth.
Es schien, als habe er schon eine Ewigkeit bei den Santoth gelebt, als sie wieder auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen kamen. Dies taten sie alle zusammen. Sie versammelten sich um
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