Acacia 01 - Macht und Verrat
riesengroße braune Augen. Sie waren viel zu groß für ihr Gesicht. In einem einzigen lang gedehnten Moment wurde ihm klar, dass sie nicht das war, was sie zu sein schien, selbst als ihm aufging, dass er ihre wahre Identität nicht bestimmen konnte. Diese paradoxe Erkenntnis weckte ihn.
Wie immer war er erschüttert von diesem Erlebnis. Für wen hatte er das Mädchen gehalten? Wer war sie wirklich ? Manchmal wurde er den ganzen Tag lang von ihrem Bild geplagt, von ihren Augen verfolgt. Er wusste, dass der Schlüssel zu ihrer Identität in ihm verborgen lag. Es war, als sei er im Besitz eines hundertseitigen Würfels, der nur auf einer einzigen Seite die Wahrheit preisgab. Doch sooft er auch würfelte, er fand nicht die Antwort.
Neben ihm regte sich Wren. Sie rollte sich vom Rücken auf die Seite, das Gesicht von ihm abgewandt. Er meinte zu spüren, wie sie die Augen aufschlug. Ihre Augen waren ganz anders als die des Mädchens aus dem Traum. Wren stammte von der Küste nördlich von Candovia. Ihr Haar war spröde und silbrigblond wie das einer Mein-Frau, doch ihre Augen waren schmal und lagen nicht tief in den Höhlen. Ihr Blick wirkte schläfrig, obwohl sie über einen raubtierhaft scharfen Verstand verfügte. »Die Macht der Träume erstreckt sich nur auf ihr eigenes Reich«, hatte sie tags zuvor zu ihm gesagt. »In der Wirklichkeit zählen nur Taten.« Sprotte gab ihr zwar recht, war sich jedoch nicht sicher, ob das nun ein Trost oder eine Herausforderung war.
Als sie später zusammen mit den anderen Seeräubern die Morgenmahlzeit einnahmen, lächelte und scherzte er mit seinen Männern wie gewöhnlich. Sie saßen auf Bänken um einen Kochofen herum, der aus dem Speiseraum von Weißhafen stammte. Es war ein eisernes Monstrum. Sprotte war mit einer kleinen Gruppe zur Siedlung zurückgekehrt und hatte den Ofen aus der Asche und den Trümmern geborgen, die die Besatzung des Gildenkriegsschiffs zurückgelassen hatte. Das Auftauchen des Ofens auf dieser weit im Süden gelegenen Insel, ihrem dritten Versteck in ebenso vielen Monaten, hatte die Moral gehoben.
Sprotte trat vor den Ofen, roch den Duft des bratenden Specks und beugte sich vor, um eine Scheibe zu probieren; den General bemerkte er erst, als der ihn ansprach. Leeka stand ein paar Schritte hinter dem Ofen. Er sprach so laut, dass alle ihn hören konnten.
»Warum habt Ihr nicht allen von dem Schlüssel erzählt?«, wollte er wissen. »Warum habt Ihr Euren Leuten verschwiegen, was der Gefangene Euch verraten hat?«
Sprottes Appetit, seine gute Stimmung und das Gefühl wohliger Entspannung waren jäh verflogen. Natürlich hatte er gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Seit dem Angriff auf das Kriegsschiff waren acht Tage vergangen. Die wenigen, die von dem Schlüssel wussten, hatte er zu Stillschweigen verpflichtet, doch unter Seeräubern waren Geheimnisse nicht sicher, zumal dann nicht, wenn ein Kapitän der Gilde ihr Gefangener war. Im Nachhinein bedauerte Sprotte, den Mann hierhergebracht zu haben. Er hätte ihn noch in derselben Nacht töten sollen, doch er hatte der Verlockung nicht widerstehen können, einen so wertvollen Gefangenen zu machen, um ihn später auszuhorchen. Er hatte veranlasst, dass nur diejenigen, die ihn bei der Unternehmung begleitet hatten, dem Mann Essen und Wasser brachten. Bei dem Verhör war außer ihm nur noch Dovian zugegen gewesen. Allerdings war der Gefangene seit ihrer Rückkehr in aller Munde gewesen.
»Ich treffe hier die Entscheidungen, nicht Ihr. Wenn ich etwas tue, dann habe ich einen Grund dafür.«
»Ich dachte, Dovian führt diese Gruppe an«, entgegnete Leeka. »Ihr seid doch nur einer seiner Seeräuber, oder etwa nicht? Das habt Ihr selbst gesagt. Sprotte, der Seeräuber. Einer von vielen …«
Sprotte drehte sich um, um ihn durch die hitzeflirrende Luft über dem Ofen anzublicken. »Jedenfalls habt Ihr hier nichts zu sagen.« Er verlieh seiner Stimme einen entschlossenen, drohenden Klang. Eigentlich hatte er sich zurückhalten wollen, doch Leeka brachte ihn mit seinem Drängen jedes Mal zum Aufbrausen. Er hatte das Geheimnis des Schlüssels nicht aus Ängstlichkeit für sich behalten, verdammt noch mal! Er brauchte nur etwas Zeit zum Nachdenken, um zu überlegen, was er damit anstellen sollte. Verflucht, Leeka hatte kein Recht, ihn darauf anzusprechen.
»Dovian ist auch meiner Ansicht«, sagte der General.
Wie aufs Stichwort erhob sich der alte Seeräuber, der am Rand der Gruppe gesessen hatte.
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