Acacia 01 - Macht und Verrat
hatte es nicht nötig, sich so etwas von ihm anzuhören und diese Gebärden zu sehen. Das war etwas, was ich ihm nicht verzeihen konnte. Jahrelang habe ich damit gelebt, ohne ihn anzurühren. Ich habe geglaubt, er wäre unberührbar, aber allmählich bin ich mutiger geworden. Der Hass auf ihn hat mich zum Krieger gemacht. Dann wurde mit dem Krieg alles anders, und es haben sich neue Möglichkeiten geboten. Ich habe ihm den Tod gewünscht. Und dann habe ich ihn getötet.«
Maeander wechselte Blicke mit mehreren seiner Männer, schaute von einem Gesicht zum nächsten und sah die Heiterkeit, die darin lauerte, bereit loszubrechen, wenn er es gestattete. Er versagte es ihnen. Er versuchte, sich diesen wettergegerbten Mann als schmalschultrigen Knaben vorzustellen, bebend vor Zorn, den herauszulassen er nicht wagte. Es gelang ihm nicht. Allerdings konnte er die Beweggründe anderer Menschen nur selten nachvollziehen. Und es waren schon aus geringerem Anlass Kriege vom Zaun gebrochen worden …
»Dann hattest du also guten Grund, den Mann zu töten. Und was war mit der Prinzessin?«
»Der habe ich nichts zuleide getan, ihr aber auch nicht geholfen.«
»Du hast sie am Leben gelassen?«
Der Mann nickte; der Nebel machte seine Bewegungen geschmeidiger als zuvor.
Maeander gab einem seiner Männer ein Zeichen, er solle dem Mann die Pfeife wegnehmen. Er sagte: »Du willst mich glauben machen, das Schicksal von Prinzessin Mena Akaran sei aufgrund einer Beleidigung besiegelt worden, die einem dicken Mädchen zugefügt wurde, an das nur du allein dich noch erinnerst?«
»Glaubt, was Ihr wollt, Herr. Die Wahrheit ist, wie sie ist.«
Maeander rückte einen Schemel neben den ehemaligen Marah und lächelte freundlich, als wäre er ein Freund, der auf einen Becher Wein vorbeigeschaut hatte. »Erzähl mir mehr darüber«, bat er. »Wann hast du die Prinzessin zum letzten Mal gesehen?«
45
Je länger Aliver bei den Santoth blieb, desto mehr hatte er das Gefühl, zu ihnen zu gehören. Ihre Eigenarten hatten sie nicht abgelegt. Weiterhin schlichen sie umher wie Gespenster und ließen Schleifspuren hinter sich zurück. Wenn sie sich auf einmal so schnell bewegten, dass er nicht mitbekam, wie sie von einem Ort zum anderen gelangten, erschrak er jedes Mal. Auch daran, wie sich ihre Miene innerhalb eines Augenblicks veränderte, konnte er sich nicht gewöhnen. In vielerlei Hinsicht aber nahmen die Zauberer ihn freundlich auf. Sie waren wie Verwandte, denen man zum ersten Mal begegnete und zu denen man sich sofort hingezogen fühlte.
Nach und nach wurden ihm ihre stummen Züge vertraut. Manchmal, wenn er eines ihrer verschwommenen Gesichter betrachtete, verlor er sich darin, und es schien ihm, als hätte er einen lebenden Spiegel vor sich. Ein greifbares und gleichzeitig körperloses Spiegelbild seiner selbst, wirklichkeitsgetreu und doch auf eine Art und Weise anders, die genaues Hinsehen erforderte. Seit er hier zum ersten Mal die Ungeheuerlichkeit seiner Stimme vernommen hatte, war kein Wort mehr aus seinem Mund gekommen; er kam auch gar nicht mehr auf den Gedanken, mit den Ohren zu lauschen. Dass die Stimmen der Santoth nicht mit dem Gehör vernehmbar waren, ließ sie umso intimer wirken. Sie folgten der Geschwindigkeit des Denkens und waren eingebettet in Stille. Diese Art des Austauschs fiel ihm allmählich leichter als jede Form der Unterhaltung, die er bis jetzt gekannt hatte.
Er spürte, dass die Santoth bei diesem wirbelnden Austausch einen Teil seines Bewusstseins in Beschlag nahmen. Sie suchten nach Erinnerungen und Informationen, nach Dingen, die in fernen Winkeln seines Gedächtnisses verstaut und längst vergessen waren. Wenn er diese Dinge preisgab, durchlebte er sie zum Teil von neuem. Er schritt durch Momente seiner Kindheit. Er sah Bilder, von denen er seit Jahren nicht mehr geträumt hatte, hörte Geschichten, vorgetragen im Tonfall seines Vaters, und lauschte, während seine Mutter ihn in den Schlaf sang. In vollkommenem Frieden ruhte er an ihrem Busen, spürte ihre Umarmung und ihren sanften Atem, der über sein Gesicht strich. Er erinnerte sich auch an die Dinge, die nicht annähernd so erfreulich waren.
Die Santoth waren auf eine bedächtige, unersättliche Art neugierig auf alles, was er gesehen und erlebt hatte, auf den Lauf der Geschichte, so wie er sie verstand, und auf Ereignisse dessen, was für sie die nahe Vergangenheit war. Er spürte, wie hart sie die Erkenntnis traf, dass Tinhadin nach Ablauf
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