Acacia 01 - Macht und Verrat
wenn ihr befreit würdet? , entgegnete Aliver. Wenn ich Elenets Buch finden würde … Wenn ich eine Möglichkeit fände, den Fluch von euch zu nehmen … Könntet ihr dann an meiner Seite kämpfen?
Mit klopfendem Herzen wartete er, musterte die verschwommenen Gesichter rings um sich herum und spürte, mit welch tiefem Ernst sie über die Antwort nachdachten. Es war das erste Mal seit seiner Ankunft, dass er sich des Verstreichens der Zeit bewusst war. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Welt rief nach ihm, und es schien von großer Dringlichkeit, dass die Santoth auf seine Frage antworteten. Würdet ihr für mich kämpfen?
Wenn Ihr uns befreit, werden wir für Euch kämpfen , antworteten die Santoth schließlich mit einer Geschwindigkeit, welche die Gefühle verriet, die sie bisher zu verbergen getrachtet hatten. Macht uns wieder zu wahren Zauberern, hoher Prinz, dann werden wir die Welt für Euch säubern, damit Ihr sie nach Eurem Willen neu gestalten könnt.
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Sprotte erwachte. Seine Augen waren offen. Er war frei von dem Traum. Es war keine Wirklichkeit. Er bemühte sich, der Angst Herr zu werden, die ihn mit solcher Macht geweckt hatte, doch es war nicht leicht. Die Lampe, die neben der klapprigen Hüttentür hing, vermochte die Bedrohung nicht zu vertreiben, die er von den Wänden auf sich eindrängen fühlte. Auch der dreibeinige Schemel, auf dem seine Weste lag, und die halb leere Weinflasche auf dem Wandregal wirkten irgendwie bedrohlich. Von draußen drang der raue Meeresatem herein. Er wusste, dass es keinen Grund gab, sich vor diesen alltäglichen Gegenständen und Geräuschen zu fürchten. Selbst in dem Traum hatte es eigentlich keinen Grund gegeben, Angst zu haben. Jedenfalls nichts, was den Gefahren nahegekommen wäre, mit denen er tagtäglich zu tun hatte. Dieses Wissen half ihm jedoch während der Augenblicke zwischen Traum und Wachsein nicht.
Der Albtraum, aus dem er aufgeschreckt war, war eine weitere Variante der Visionen, die ihn plagten, seit Leeka Alain auf den Außeninseln eingetroffen war und darauf bestanden hatte, ihn bei dem Namen zu nennen, den er bereits halb vergessen hatte. Der Traum begann immer damit, dass er sich seiner Kleinheit bewusst wurde. Er war ein Kind, mit spindeldürren Beinen und dünnen Ärmchen. Er sah die Welt aus der Perspektive eines Kindes. Er wusste, dass er eine Zielscheibe war, dass er von einer namenlosen, formlosen Möglichkeit gejagt wurde. Wenn dieses Wesen ihn fände, würde etwas Grauenhaftes geschehen. Er wusste nicht was, doch er konnte nicht stehen bleiben, um es herauszufinden. Er wanderte durch unterirdische Gänge, durch ein dunkles, unglaublich verwinkeltes Labyrinth. Die Welt existierte nur vor ihm, und er existierte nur, indem er sich durch sie voranbewegte. Hinter ihm verschwand alles. Über Kreuzungen rannte er hinweg, da er sich vor dem fürchtete, zu was sie sich öffnen könnten. Unheimliche Wesen streckten ihre Krallen, Schnäbel und gehörnten Köpfe aus den Steinwänden hervor, jedes von ihnen in einem Ausdruck rasender Wut gefangen. Mühelos hätten sie ihn in Stücke reißen können; wie erschreckend, dass sie alle so taten, als wären sie nur aus Stein. Das stimmte natürlich nicht. Wenn er die Ohren spitzte, hörte er ihr gedämpftes Atmen.
Obwohl er durch immer neue Gänge kam und sein Weg niemals derselbe war, gelangte er immer ans gleiche Ziel. Er trat in einen hell erleuchteten Raum, der voller Menschen war. Es wurde gelacht, Musik erklang, und das Klirren der Gläser glich stetigem Wassertröpfeln. Hundert lächelnde Gesichter wandten sich ihm zu. Die Menschen hatten sich versammelt, um ihn zu ehren. Es war sein Geburtstag. Das also war der Grund, weshalb er durch die Gänge geirrt war: sein zehnter Geburtstag! Die Menschen wogten ihm entgegen und nannten ihn bei dem Namen, den auch Leeka gebraucht hatte. Dieser Name war das einzige Wort, das sie von sich gaben, in zahllosen unterschiedlichen Tonhöhen, zu ganzen Sätzen aneinandergereiht, betont wie eine Frage oder so energisch vorgebracht wie ein Tadel. Ihre Sprache beinhaltete ein einziges Wort: seinen Namen.
Das jüngste Mädchen im Raum streckte ihm die Hand entgegen, die weiße Handfläche nach oben gedreht, die Finger gekrümmt und lockend. Als er das sah, schüttelte es ihn vor Angst. Sie kam auf ihn zu, flüsterte, bedeutete ihm mit Gesten, dass er sich nicht zu fürchten bräuchte. Je drängender sie lockte, desto misstrauischer wurde er. Das Mädchen hatte
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