Acacia 01 - Macht und Verrat
versetzen. Die Geschichten, die seine Seeräuber über ihn erzählt hatten, hatten die Massen glauben gemacht, er sei unverwundbar, unantastbar und vom Schöpfer gesegnet. Sie waren Leitfiguren, um die sich die Menschen bereitwillig scharten. Alivers Befehle – die sie an die Kämpfer weitergaben – hoben die Stimmung in einem Maße, wie es nicht einmal erfahrenen Generälen wie Leeka Alain gelang.
Dazu waren die Türme da gewesen, zum Teil. Von ihnen aus übermittelten sich die drei Geschwister mit Spiegeln und verschiedenfarbigen Fahnen Botschaften. Außerdem erlaubten sie es Aliver, mit den Santoth in Verbindung zu treten; in der Höhe fiel es ihm leichter, sie mit seinen Gedanken zu erreichen. Doch nach dem Tag der letzten Schlacht, als Maeander seine Katapulte auf die Türme ausgerichtet hatte, hatte man diese aufgeben müssen. Sie waren zu beliebten Zielscheiben geworden. Am zweiten Tag war einer der Türme für Mena nur durch Zufall nicht zur tödlichen Falle geworden. Sie war auf dem Weg dorthin aufgehalten worden, und anstatt sich darin zu befinden, sah sie, knapp außer Reichweite der Explosionswelle, mit an, wie er zerstört wurde.
Aliver hatte sich auf dem Turm aufgehalten, der am dritten Tag getroffen worden war. Er hatte gerade seinen Geist für die Santoth geöffnet, als die Verbindung auf einmal abriss. Im nächsten Moment warfen sich alle Soldaten in seiner Nähe zu Boden. Dann fühlte es sich an, als sei die Sonne auf die Erde gefallen. Das Dach knickte ein und stürzte auf ihn herunter. Durch sämtliche Öffnungen schlugen Flammen und schleuderten ihn umher wie Wolken aus geschmolzenem Metall. Die Welt, die seine Augen wahrnahmen, wandelte sich von flammendem Gold bis zu tiefer Schwärze und dahinter zu gar nichts. Einige ausgedehnte Sekunden lang schwamm er in dem verwirrenden Schmerz, mit dem ihm das Fleisch vom Körper gesengt wurde. Er wusste noch, dass er im Tode einen letzten Gedanken gehabt hatte, doch wie es manchmal im Traum geschieht, konnte er sich später nicht mehr daran erinnern. Vielleicht hatte er den Gedanken auch gar nicht vollendet, ehe die Veränderung eingetreten war.
Die Erholung vollzog sich rasch. Eben noch hatte er lichterloh gebrannt; im nächsten Moment wichen die Flammen vor ihm zurück und schienen sich zu verflüchtigen. Der Turm, der durch die Wucht des Treffers im Begriff gewesen war einzustürzen, fing sich wieder. Das Holz dehnte sich wie soeben erwachte Muskeln. Der ganze Turm ächzte. Dann stand er auf einmal wieder aufrecht da. Die Hitze verschwand. Alivers Haut war unversehrt. Die Männer und Frauen in seiner Nähe kamen benommen auf die Beine.
Ihre wortlosen Fragen hatte er wahrheitsgemäß beantwortet. So verblüfft er selbst auch war, sprach er doch voller Selbstbewusstsein, als täte er etwas kund, das eigentlich jedes einigermaßen gut unterrichtete Kind wissen müsse. Ihr Anliegen sei gesegnet, sagte er. Die Santoth, wenngleich unsichtbar, schützten sie. Zuvor hatte er bereits eine Ansprache gehalten und ihnen erklärt, sie alle lebten in einer mythischen Zeit. Daran erinnerte er sie und bat sie, sich vorzustellen, wie zukünftige Generationen diese Armee besingen würden. Aus allen Gegenden der Bekannten Welt seien sie herbeigeströmt und würden von uralten Zauberern beschützt, deren sehnlichster Wunsch es sei, in die Welt der Lebenden zurückzukehren und früheres Unrecht wiedergutzumachen. Ihr Unternehmen sei zu großartig, um zu scheitern, sagte er.
Er ließ unerwähnt, dass die Zauberer wahrscheinlich ihn persönlich hatten schützen wollen – die anderen waren von ihnen gerettet worden, weil sie sich in der Nähe des Prinzen aufgehalten hatten. Des Weiteren verschwieg er, dass den Santoth die dramatische Rettung nur deshalb gelungen war, weil die Verbindung zwischen ihnen frisch und neu gewesen war und der Treffer zufällig in diesem Moment erfolgt war. Doch inzwischen hatte er gelernt, dass eine Teilwahrheit bisweilen mehr bewirkte als das ganze Bild. Binnen weniger Stunden würde die gesamte Armee über den Vorfall Bescheid wissen. Die Kämpfer würden neue Geschichten von Magie und Prophezeiung um ihn herum spinnen. Für sie war er der Magier. Sie glaubten, er habe all das bewirkt. Obwohl er wusste, dass sie sich irrten, sah er, dass es ihnen Mut machte. Das zumindest war etwas Gutes.
Da die Türme zurückgelassen worden waren, strebten die drei Geschwister auf die vorderen Reihen zu. Die Kämpfer formierten sich noch, schlossen die
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