Acacia 01 - Macht und Verrat
neutral verhalten hatte. Sollte Hanish siegen, würde ihm durch das Abwarten der Gilde kein großer Schaden entstehen. Er würde grollen, ihr aber letztendlich verzeihen. Was bliebe Hanish sonst auch übrig? Eigentlich hatte die Gilde bei einem Rückzug nichts zu verlieren. Wenn sie aber weiterhin die Mein unterstützte und diese unterlagen … Dann würde Aliver unerbittlich sein. Er würde den Handel vollständig einstellen. Er würde den Zorn der ganzen Welt gegen sie wenden und mit aller Kraft versuchen, sie zu vernichten. Und sollte all das nicht ausreichen, um Sire Dagon zu überzeugen, würde sie ihm noch einen anderen Vorschlag unterbreiten, den er so leicht nicht würde ausschlagen können.
Das alles war viel verlangt, doch als sich die Nasenflügel des Gildenvertreters zum zehnten Mal blähten, öffnete sie den Mund. »Sire Dagon, ich möchte Euch auf Verlangen meines Bruders mitteilen, dass er nicht die Absicht hat, euren Interessen zu schaden. Ganz im Gegenteil ist er der Ansicht – und ich ebenfalls -, dass eine Partnerschaft zwischen der Gilde und den Akaran für beide Seiten in Zukunft noch profitabler sein könnte als in der Vergangenheit.«
Mit dieser Eröffnung hatte sie das Interesse des Gildenvertreters gewonnen. Sire Dagon bekundete mit einem Kopfnicken, dass sie fortfahren solle, dass sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein könne, zumindest für ein letztes Mal.
61
Nichts von der vertrauten, natürlichen Ordnung der Welt war in dem heraufziehenden neuen Tag zu vernehmen. Nichts von seinem üblichen Gefühl, dass die Wesen der Nacht sich zur Ruhe begaben, während die Tagarbeiter ihre Stelle einnahmen. Kein Vogelgezwitscher. Keine krähenden Hähne, die ihren Anspruch auf die lichte Welt verkündeten. Keine bellenden Dorfhunde. Er hörte kein Kindergeschrei, keine Rufe und kein Gelächter. Die Frauenstimmen fehlten, die sonst immer nach alter talayischer Sitte den Tag begrüßten. Auch der Klang der Dreschflegel lag nicht in der Luft, jener Rhythmus, der im Laufe der Jahre zu einem sanften Lockruf geworden war aufzuwachen, so verlässlich und so willkommen wie die aufgehende Sonne.
An dem Morgen, da der Kampf gegen Maeander Mein weitergehen sollte, lag Aliver in seinem Zelt wach auf der Pritsche und vermisste all dies. Solche Momente schienen ihm ebenso fern wie Erinnerungen aus seiner Kindheit. Es waren kurze Blicke auf eine unschuldige Welt, an die er kaum mehr glauben konnte. Damals hatte er gedacht, er durchleide ein Exil, doch im Rückblick erschien ihm jeder einzelne Tag wie ein Idyll. Die Erinnerung, dass er früher ein Leben wie jeder andere in einer ganz normalen Welt geführt hatte, bereitete ihm körperliche Schmerzen, die ihn Nacht für Nacht selbst dann plagten, wenn er einmal für kurze Zeit einschlief. Alle Sorgen und Ängste, die ihn damals beschäftigt hatten, wirkten nichtig verglichen mit dem, womit er es jetzt zu tun hatte.
Er richtete sich auf und rieb sich mit den Fäusten die Augen. Kurz darauf trat er aus dem Zelt. Ringsumher breitete sich das Gewimmel der Menschen aus, die herbeigeeilt waren, um für sein Anliegen zu kämpfen. Hunderte Zelte und Unterkünfte, tausende Männer, Frauen und Kinder, die sich anschickten, sich dem nächsten Kriegstag zu stellen. Die Halaly-Leibwächter, die ihm auf eigenen Wunsch hin auf Schritt und Tritt folgten, nickten ihm zu. Überall wandten sich ihm Gesichter zu, lächelnd und voller Hoffnung. Sie alle hielten diesen Krieg für so gut wie gewonnen. Sie vertrauten ihm vollständig, hielten ihn für einen wiederauferstandenen Edifus oder Tinhadin. Obwohl er es abstritt, glaubten sie, er sei die Macht, die sie schützte, und nicht die unsichtbaren Santoth.
Sein Blick huschte umher, da er ihn nicht zu lange auf einem seiner getreuen Anhänger ruhen lassen wollte. Ihnen gegenüber durfte er sich keine Unsicherheit anmerken lassen. Du darfst unsicher sein , hatte Thaddeus kurz vor seinem Verschwinden zu ihm gesagt, aber du darfst es dir niemals anmerken lassen . Bis dahin war Aliver gar nicht bewusst gewesen, was für eine große Stütze der ehemalige Kanzler für ihn gewesen war. So seltsam es auch schien, hatte er doch das Gefühl gehabt, sein Vater spräche zu ihm aus dem Mund des Mannes, der ihn verraten hatte. Thaddeus hatte gemeint, alle Menschen tasteten mehr oder weniger hilflos im Leben umher, auch Könige. Doch ein guter König bewegt sich, als wäre er ein Held aus alten Zeiten. Solche Helden zweifeln niemals an sich
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