Acacia 01 - Macht und Verrat
selbst. Jedenfalls nicht, soweit die Welt es mitbekommt. Aliver vermisste den alten Mann sehr. Thaddeus hatte kein Wort des Abschieds gesagt, doch der Prinz wusste, wonach er suchte. Er betete, dass seine Suche bald Erfolg haben würde.
Mena und Dariel verzehrten gerade ihr Frühstück. Sie saßen so dicht nebeneinander, dass sich ihre Knie berührten, hielten in der einen Hand Holzschalen und löffelten sich mit der anderen Haferbrei in den Mund. Mena, so zart und doch zu einer messerscharfen Kraft geschliffen, die von ihrer spärlichen Kleidung nicht verborgen wurde. Gefährlich, obgleich sie der Welt ein freundliches, kluges Gesicht zeigte, das Schwert an der Hüfte stets in Reichweite. Dariel, stets bereit zu einem Lächeln, mit seiner rastlosen Energie, ein listiges Funkeln in den Augen, das Hemd offen bis zum flachen Bauch. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich beim Essen. Sie sahen aus wie... nun, wie zwei ungleiche Geschwister, die sich gut verstanden. Die jahrelange Trennung war anscheinend bedeutungslos geworden.
Aliver wurde von einem Aufwallen der Gefühle überwältigt. Am liebsten hätte er sich mit einem Satz zwischen sie gedrängt und sie umarmt. Wenn er das täte, würde er sich mit ihnen am Boden wälzen. Er würde Tränen über sie beide verströmen, würde heulen und weinen, und er war sich nicht sicher, ob er sich aus einer solchen Umarmung wieder erheben und tun könnte, was getan werden musste. Er selbst oder sie beide konnten im Verlauf der nächsten Stunden sterben. Das wusste er. Ein Teil von ihm hätte ihnen gern eine Menge Dinge gesagt, zur Vorbereitung. Er hätte seine verletzlichste Seite nach außen kehren und sie mit ihnen teilen sollen, damit sie ihn verstanden und sich an ihn erinnerten. Er sehnte sich danach, ganze Tage mit ihnen zu verbringen und alles über ihr bisheriges Leben zu erfahren, sie auszuhorchen, um das Leben, das er gelebt hatte, besser einordnen zu können, in ihren Erinnerungen nach einem vollständigeren Bild dessen zu suchen, was jeder von ihnen durchgemacht hatte.
Einen Teil seiner Zukunftsvisionen hatte er ihnen bereits enthüllt. Sollten sie siegen, hatte er gemeint, werde er nicht über sie herrschen. Er würde kein Tyrann sein, der ihnen jeglichen Einfluss auf das Geschick des Reiches vorenthielt. Sie würden alle Entscheidungen gemeinsam treffen. Sie würden einstimmig entscheiden und Kompromisse schließen. In langen Gesprächen miteinander würden sie zu größerer Weisheit finden, als jeder Einzelne es vermochte. Die einzelnen Regionen würden in Zukunft stärker repräsentiert sein, während sie gleichzeitig mehr Verantwortung für das Funktionieren des Reiches übernehmen würden. Jeder würde an der Gestaltung der Zukunft einen größeren Anteil haben.
Dies alles war ihm ernst, und er glaubte daran, doch es war der Prinz Aliver Akaran, der da sprach, nicht der Bruder. Für den Bruder gab es noch eine Menge Dinge, die er so gern mit seinen Geschwistern ausgetauscht hätte. Als er auf sie zuging, war ihm klar, dass sein Leben noch nie seinen Vorstellungen entsprochen hatte; ganz gleich, was geschehen sollte, so würde es bleiben. Die schiere Bedeutung des Tages, der sie erwartete, machte es ihm unmöglich, seine Geschwister zu umarmen und die Tränen fließen zu lassen. Diese Gefühle mussten warten, auf ruhigere Zeiten, wenn nicht Tausende von Menschenleben auf dem Spiel standen. Stattdessen meldete er sich trocken zu Wort, wie jeder ältere Bruder seinen jüngeren Geschwistern gegenüber.
»Wie kommt es eigentlich, dass ihr beide immer vor mir auf seid?«, fragte er.
Mena erhob sich lächelnd und drückte seinen Ellenbogen.
Dariel sagte: »Die Frage ist, wie du es überhaupt schaffst zu schlafen.«
»Nicht tief, Bruder«, erwiderte Aliver und griff auf ein altes talayisches Sprichwort zurück. »Ich schlafe einen leichten Schlaf, damit mein Kopf nicht im Meer der Träume versinkt.«
Binnen einer Stunde waren sie alle drei bewaffnet und für ihre Aufgabe gerüstet. Bisher hatte jeder von ihnen einen Teil der Armee angeführt. Mena und Dariel hatten keine Erfahrung darin, Krieg zu führen, lernten aber rasch und behielten den Überblick. Mena hatte in den vordersten Reihen gekämpft und alle mit ihrem Geschick als Schwertkämpferin und ihrer Fähigkeit, unerbittlich zu töten und dabei demütig und menschlich zu bleiben, in Erstaunen versetzt. Dariel verstand es, die Kämpfer in eine beinahe komische Ausgelassenheit zu
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