Acacia 01 - Macht und Verrat
Nacht erhielt er Kunde von zwei weiteren beunruhigenden Entwicklungen. Die Gildenschiffe entlang der Küste hatten sich zurückgezogen. Die Gilde gab keine Erklärung ab und schlug die Gesprächsangebote der wenigen Mein-Kapitäne aus, die eigene Schiffe befehligten. Es war Verrat, doch bislang gab es keine Erklärung dafür. Das bedeutete, dass Maeander seine Truppen nicht ausschiffen konnte, sollte er zur Küste zurückgetrieben werden. Obwohl er das nicht laut sagte, fragte er sich, ob nicht vielleicht sein Bruder dahintersteckte, der ihm einen Dämpfer erteilen oder ihn herausfordern wollte. Das ergab zwar keinen Sinn, was den Gedanken jedoch nicht davon abhielt, sich wie ein Rad ständig in seinem Kopf zu drehen.
Als er noch später am Abend allein in seinem Zelt saß und in die stetige Flamme der Öllampe starrte, brachte ihm ein Bote eine weitere Nachricht. Es war ein Schreiben seines Bruders, das ein Botenvogel übers Meer befördert hatte. Die Gilde wurde darin nicht erwähnt – vielleicht wusste Hanish noch gar nichts davon, was geschehen war. Er berichtete, die Tunishni seien eingetroffen. Und zwar alle. Sie hätten die Reise unversehrt überstanden und vibrierten vor Energie. Sie wollten endlich frei sein. In wenigen Tagen hätte er sie in der neuen Totenkammer in Acacia untergebracht. Dann werde er sie erlösen.
Und dann, dachte Maeander, wirst du dein Lebenswerk vollendet haben. Und ich... ich werde nicht mehr erreicht haben, als deinen Ruhm zu sichern.
Dieser Gedanke ließ ihn beinahe verzagen. Diesem Gefühl folgte eine alte Erinnerung dicht auf den Fersen. Damals war er elf gewesen, Hanish war gerade dreizehn geworden. Ihr Vater lebte noch und erklärte, er sei stolz auf sie. Zu Ehren von Hanishs Geburtstag hatte Herberen veranlasst, dass sie im Calathfels vor einer Gruppe alter Veteranen den Maseret tanzten. Es würde Hanishs letztes Duell als Novize sein – das letzte Mal, dass es für ihn nicht um Leben und Tod ging. Sie verwendeten echte Messer, trugen jedoch Kettenhemden unter der Thalba. Über dem Herzen war ein Punkt aufgemalt. Dies war das Ziel, das sie treffen mussten, um den Kampf zu entscheiden.
Beide waren geschmeidig und stark, ihre Körper schossen ungehemmt in die Höhe. Maeander war fast so groß und so kräftig wie Hanish und glaubte schon seit geraumer Zeit, dass sein Geschick beim Maseret das seines Bruders übertraf. Bei dieser Gelegenheit, vor den zuschauenden Ältesten, konnte er nicht anders, als Hanish an seine Grenze zu trieben. Das hatte er nicht vorgehabt. Es passierte einfach. Der Stolz wallte in ihm auf und führte ihm Hand und Fuß. Er bewegte sich schneller als früher, änderte unerwartet das Tempo. Er wunderte sich, wie gefasst das Gesicht seines Bruders blieb; das war umso beeindruckender und ärgerlicher, als er spürte, unter welcher Anspannung Hanish stand. Maeander versuchte nicht, das Duell zu gewinnen. Das wäre eine gar zu offensichtliche Kränkung gewesen. Doch er wollte sichergehen, dass die Ältesten ihn zur Kenntnis nahmen, und so vergoss er Hanishs Blut. Mit einem Rückhandhieb schnitt er ihm in den linken Nasenflügel und blickte dabei zu den Zuschauern auf. Kurz darauf ließ er Hanish seinen Herzpunkt treffen. Als er die Arena verließ, war er mit sich zufrieden. Eine Schnittverletzung im Gesicht galt nach den Regeln des Tanzes als unbedeutend; außerdem war es keine schwere Verletzung. Die Narbe aber würde bleiben, und das freute ihn.
Doch in der Nacht wurde er jäh aus seinen Träumen gerissen. Er erwachte voller Angst. Jemand lag auf seinem Rücken. Jemand packte sein Haar und riss ihm den Kopf zurück. Die flache Seite einer Klinge wurde in einem solchen Winkel an seine Haut gedrückt, dass er gerade noch spüren konnte, wie die Schneide seine Haut kostete.
Und dann flüsterte Hanish an seinem Ohr, kalt und deutlich. So oder so, sagte er, werde er nicht zulassen, dass Maeander ihn noch einmal demütigte. »Streite nicht ab, dass du es darauf angelegt hattest! Alle haben es gesehen. Ich habe es gespürt. Du wolltest mir zeigen, dass du mir überlegen bist. Du willst, dass ich dich fürchte, nicht wahr? Aber ich habe keine Angst vor dir. Das ist mein Messer, das du da am Hals spürst, Bruder. Es war immer da und wird immer da sein. Wenn ich wollte, könnte ich dich auf der Stelle töten.«
Maeander glaubte ihm. Sein Bruder hätte nicht überzeugter klingen können, hätte er mit der Stimme des Schöpfers gesprochen. Hanish sagte, er müsse
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