Acacia 01 - Macht und Verrat
auch Igguldan seine Nationaltracht voller Stolz: lange lederne Hosen, die hauteng seine Beine umschlossen, ein Hemd mit grünen Ärmeln, eine blaue Weste und ein schräg sitzende Filzkappe. Eigentlich waren die Kleidungsstücke recht schlicht, eher für die Jagd geeignet. Das stand durchaus im Einklang mit der Natur dieses Volkes. Die Aushenier liebten das wogende Waldland ihrer Heimat und hielten sich für ebenso gute Jäger, wie ihre Vorfahren es gewesen waren. Nach Igguldans kräftigen, langen Gliedmaßen zu schließen, traf das vielleicht sogar zu, dachte Aliver bei sich.
Aliver hatte seinem Vater gegenüber einmal geklagt, dass man anderen Völkern kein eigenes Königshaus erlauben dürfe. Welchen Sinn habe es, wenn ein König über Könige herrsche? Das unterhöhle deren Autorität, und andere drohten ihnen gleichgestellt zu sein. Sollte nicht ein einziger Monarch über das ganze Reich herrschen? Leodan hatte ihm geduldig geantwortet. Nein, hatte er gesagt, das sei keineswegs besser. Die Nationen der Bekannten Welt – nicht nur Aushenia – seien ihnen in vielerlei Hinsicht und in allen wichtigen Dingen untergeordnet. Zwar seien sie besiegte Völker, doch sie seien nicht ohne Stolz. Wenn sie ihre Könige und Königinnen, ihre Gebräuche und Eigenarten behielten, könnten sie sich einen Teil dieses Stolzes bewahren. Dies sei wichtig, weil Menschen ohne Selbstachtung zu allem fähig seien. »Lass sie sein, wer sie sind, auf dass sich unsere Herrschaft so sanft anfühlen möge wie die Hand des Vaters auf der Schulter seines Sohnes.«
Der aushenische Prinz wurde nur von einem Teil des königlichen Beraterstabs empfangen. Einige hochrangige Ratsmitglieder ließen sich durch ihre Sekretäre vertreten – etwas, worüber Leodan verdrossen vor sich hinbrummte. Thaddeus war zusammen mit dem König und Sire Dagon von der Seefahrergilde erschienen, außerdem waren noch genug andere Persönlichkeiten zugegen, um der Zusammenkunft angemessene Bedeutung zu verleihen. Der Prinz war von Würdenträgern seines Landes umgeben, von Beratern und erfahrenen Botschaftern. Aliver wusste, dass Igguldan nur drei Jahre älter war als er selbst, doch als Würdenträger schien er sehr viel geübter zu sein. Die älteren Männer begegneten ihm mit Respekt. Bevor sie selbst das Wort ergriffen, fragten sie ihn mit Blicken um Erlaubnis. Er unterhielt sich freimütig mit Leodan und Thaddeus und trug eine lange Grußbotschaft seines Vaters Guldan vor, die auch Verse enthielt und von ihrem Rhythmus her beinahe wie ein Gedicht anmutete. Es hätte Aliver durchaus verdrießen können zu sehen, wie sich ein junger Mann in einer solchen Rolle wohler fühlte als er selbst, nur war es schwer, Igguldan mit seinem offenen Lächeln und seiner freundlichen Art nicht zu mögen.
»Verehrte Berater Acacias«, sagte Igguldan, »wahrlich, ich habe nie eine schönere Insel gesehen als diese – oder einen prachtvolleren Palast. Euer Volk ist gesegnet, und Acacia ist das Hauptjuwel in der prächtigsten aller Kronen.«
Eine Weile sprach er, als gehe es ihm allein darum, die acacische Kultur zu preisen. Wie sehr der Anblick der hohen Zitadellen sein Herz erfreue! Wie er über die Schönheit der Steinmetzarbeiten staune, über die kunstvolle Schlichtheit der acacischen Architektur, die ausgeklügelte, wenngleich niemals protzige Zurschaustellung von Reichtum. Noch nie habe er so gut gespeist wie am Abend zuvor: vor seinen Augen auf offener Flamme gegrillter Schwertfisch mit einer Soße aus süßen Früchten, wie er sie sich nie hätte träumen lassen. Jeder, dem er hier begegnet sei, sei von so außergewöhnlicher Liebenswürdigkeit und so würdevollem Gebaren gewesen, dass es ihm daheim zum Vorbild gereichen werde. Da er einer kleineren Nation angehöre, die dem Wandel und den Launen der Jahreszeiten ausgesetzt sei, erfülle ihn das erhabene Verschmelzen von Macht und Heiterkeit, das Acacia darstelle, mit Ehrfurcht.
Er verstand es so gut, mit Worten umzugehen, dass Aliver es zuerst gar nicht mitbekam, als er auf den eigentlichen Zweck seines Besuchs zu sprechen kam. Als er es endlich merkte, erklärte der Prinz gerade, sein Volk sei stolz auf seine lange Geschichte als freie, unabhängige Nation. Er müsse keinen der Anwesenden an die Rolle erinnern, die Aushenia bei der Sicherung des acacischen Friedens gespielt habe. Mit der vereinten Macht Aushenias und Acacias seien ihre gemeinsamen Feinde an zwei Fronten geschlagen worden. Seit jener fernen Zeit habe es
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