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Acacia 02 - Die fernen Lande

Acacia 02 - Die fernen Lande

Titel: Acacia 02 - Die fernen Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Anthony Durham
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Shen.
    »Nun, gut, dass du Augen hast, um dir das vorzustellen, denn so ist es nicht geblieben.«
    Naamen erklärte, dass Elenet, der erste Mann, in diese Welt hineingeboren wurde. Einige Zeit nahm er an dem Frohlocken teil, schon bald jedoch hatte er genug von der Sprache des Schöpfers gelernt, dass er eingebildet wurde. Er versuchte sich an seinen eigenen Schöpfungen, doch weil er nicht der Schöpfer war, kam bei allem, was er versuchte, nichts Richtiges heraus. Es war stets verzerrt. Als er Wärme erschaffen wollte, ließ er die Sonne zu stark brennen. Er floh und sang, um sich Kühlung zu verschaffen, und Teile der Welt erstarrten zu Eis. Um sich selbst zu wärmen, machte er Feuer, und erst viel später bemerkte er, dass Feuer alles verzehrt, was es berührt. Um das Feuer zu löschen, hob er Wasser aus den Flüssen und erschuf Stürme. Um die Stürme niederzuschlagen, blies er den Himmel sauber und stellte fest, dass er Wüsten geschaffen hatte.
    »Verstehst du?«, fragte Naamen. »Alles, was er tat, hat Chaos erschaffen; nichts, was er vorgehabt hat, hat so Gestalt angenommen, wie er es beabsichtigt hatte. Als er sich selbst unsterblich machen wollte, hat er den Krankheiten die Tür geöffnet. Er hat den Tod in dem Augenblick erschaffen, in dem er angefangen hat, ihn zu fürchten und vor ihm zu fliehen.«
    »Vorher ist niemand gestorben?«, fragte Shen.
    »Nein«, sagte Naamen, »dies ist die Zeit der ersten Generation von allem. Anfangs war nichts, und dann gab es Leben. Wenn Elenet nicht so falsch gehandelt hätte, hätte es vielleicht immer so bleiben können.«
    Aber er hatte falsch gehandelt, und der Schöpfer hatte das Vertrauen in seine Kreaturen verloren. Er wandte sich ab und ließ seine Schöpfungen im Stich, weil er fürchtete, dass jede von ihnen die nächste sein könnte, die ihn verriet. Binnen kürzester Zeit veränderte sich die ganze Welt. Die Herzensgüte, die der Schöpfer war, ging mit ihm fort, und die Welt, die zurückblieb, war ein anderer Ort. Geschöpfe, die Freunde gewesen waren, fingen an zu zanken. Starke fanden Gefallen daran, Schwache zu quälen. Und es dauerte nicht lange, dann fingen einige Kreaturen an, sich vom Fleisch anderer zu nähren. Adler bohrten ihre Krallen in die Mäuse, die ihre Freunde gewesen waren. Schlangen nutzten ihre Fähigkeiten, sich verstohlen zu bewegen, um zu jagen. Löwen fraßen alles, was sie wollten. Da sie fürchteten, dass sie alle verschwinden würden, lernten die Gejagten, sich zu paaren und Kinder zu bekommen, doch dann lernten auch die Jäger diese Dinge. So schmerzhaft und gefährlich es auch war, hatten sie nun ihre eigenen Jungen, denen sie das Jagen beibrachten.
    Elenet floh aus diesem Chaos, aber niemand weiß, wohin er geflohen ist. In seiner Abwesenheit verkündeten die Löwen, dass sie die höchsten aller Kreaturen des Landes seien. Die Laryx, die dies hörten, lachten gackernd, denn sie verachteten die Löwen und glaubten, sie selbst seien die Höchsten. Deshalb brüllen Löwen und Laryx einander bis heute an. Die Löwen brüllen ihre Vorrangstellung heraus, und die Laryx lachen über die Narretei der Löwen.
    »Ihre Blutfehde geht weiter«, sagte Naamen, »und wird vielleicht ewig weitergehen. Zumindest bis der Schöpfer zurückkehrt und die Welt wieder richtig macht.«
    Der Geschichtenerzähler senkte den Kopf und deutete damit an, dass seine Geschichte zu Ende war. Shen hatte mit dem Kopf in der Armbeuge dagelegen. Einen Moment lang dachte Kelis, sie sei eingeschlafen, doch dann sagte sie: »Ich habe gedacht, die Santoth hätten die Laryx mit der Berührung ihrer Augen gemacht – als sie wütend waren, meine ich, weil sie verbannt worden sind.«
    »Das wird manchmal erzählt«, räumte Kelis ein.
    »Aber Naamen hat gesagt, die Laryx waren schon in den ersten Tagen da.«
    »Manchmal werden zweierlei Dinge erzählt, die nicht übereinstimmen«, sagte Naamen. »Welches von beiden ist wahr? Oder sind beide wahr? Ich kann es nicht sagen. Ich erzähle nur das, was mir erzählt wurde.«
    Das Mädchen gähnte. »Ich werde die Steine fragen müssen. Sie werden mir die Wahrheit sagen.«
    Shen sagte dies mit kindlicher Selbstverständlichkeit, ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass jemand diese Idee phantastisch oder unwahrscheinlich oder erschreckend finden könnte. Das ließ Kelis zu seinem Wirbel besorgter Gedanken zurückkehren. Dies war kein normaler Jagdausflug oder eine Wanderung oder ein Nachtlager unter den Sternen, um sich alte

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