Acacia 02 - Die fernen Lande
Geschichten zu erzählen. Zum zweiten Mal in seinem Leben war er auf der Suche nach den verbannten Zauberern, den Gottessprechern, den Santoth – denjenigen, die Shen als Steine bezeichnet hatte. Sie waren Wesen, die er nur ein einziges Mal gesehen hatte, an einem grimmigen, schrecklichen Nachmittag. Das Ereignis war insofern glorreich, als dass es Hanish Meins militärische Niederlage kennzeichnete. Doch es wurde von den Gefühlen zu Alivers Tod überlagert, und die Erinnerung beschwor Szenen herauf, die so schrecklich waren, dass er darum betete, so etwas nie wieder sehen zu müssen.
Trotzdem versuchte er jetzt, eben diese Zauberer zu finden. Niemand konnte sagen, warum, abgesehen davon, dass ein Mädchen schwor, dass es sein musste. Mit diesem Kind, einer Frau und einem Halbwüchsigen war er unterwegs, und zwar heimlich, damit die Königin, der zu dienen er geschworen hatte, nicht von der Existenz einer Nichte erfuhr – einer Nichte, die den Anspruch ihres eigenen Kindes auf den Thron anfechten könnte.
Benabes Stimme unterbrach seine Gedankengänge. »Was wollen sie von meiner Kleinen? Kannst du es mir sagen?« Sie lag auf einen Ellbogen gestützt neben ihrer jetzt schlafenden Tochter und sah Kelis an. Ihr Gesicht wurde mehr von den Sternen als vom schwachen Schein des ersterbenden Feuers beleuchtet. Wenn man sie so sah, im Wechsel von Licht und Schatten, hätte sie entweder sehr alt oder sehr jung sein können. So oder so war sie auf eine Weise schön, die Künstler mit Freuden in Stein bannen würden.
»Ich? Base, diese Weisheit besitze ich nicht.«
Benabe stieß den Atem aus und blickte auf die Ebene hinaus, die sich in weiter Schwärze rings um sie erstreckte. Der Löwe hatte mit seinem Gebrüll aufgehört, doch an seiner Stelle zirpten und surrten und raschelten und kläfften jetzt tausend winzige Kreaturen.
»Seit wir Bocoum verlassen haben, hat Shen nicht mehr gezittert«, sagte Benabe. »Normalerweise fällt sie alle paar Wochen um. Ich habe diese Augenblicke immer gehasst. Es kann sie überall und jederzeit treffen. Eben geht sie noch aufrecht dahin, und plötzlich liegt sie mit verdrehten Augen zuckend am Boden und schnappt verzweifelt nach Luft. Wenn sie aufgeregt ist, passiert es öfter.«
»Sie sieht nicht aufgeregt aus«, sagte Naamen.
»Nein, das stimmt«, pflichtete Benabe ihm bei. Es klang fast verbittert, fast resigniert. »Wir überqueren einen Kontinent und marschieren in eine Wüste, um mit Zauberern zusammenzutreffen, die vor zweihundert Jahren hätten sterben sollen, und sie hat noch nie glücklicher oder gesünder ausgesehen. Es ist genauso, wie wenn sie nach dem Zittern wieder aufwacht. Ihr Gesicht wird so entspannt, so friedlich. Sie lächelt und ist … glücklich. Ich … mir klopft jedes Mal das Herz bis zum Hals. Jedes Mal glaube ich, dass der Anfall sie vernichtet hat, aber jedes Mal erfüllt er sie mit mehr Freude, als ich jemals empfinde. Dafür sollte ich die Zauberer lieben, doch stattdessen hasse ich sie manchmal.« Sie richtete den Blick auf Kelis, musterte erst ihn, dann Naamen und dann wieder Kelis. »Ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue, wenn ich sie gehen lasse. Kelis, du hast sie gesehen. Sag mir, dass sie gut sind.«
Als Antwort rückte er seinen Umhang zurecht, zog ihn enger um seinen Oberkörper. Er zwang sich zu einem Gähnen und dehnte es so lange aus, wie er nur konnte, und dann änderte er seine Position, als wäre er kurz davor einzuschlafen. »Es gibt nichts zu fürchten«, sagte er und hoffte, die Lüge würde ausreichen, um das Gespräch zu beenden.
Am nächsten Nachmittag bemerkte Kelis am südlichen Horizont etwas Merkwürdiges. Er sagte nichts, weder an diesem Tag noch am nächsten. Doch am dritten Tag versuchte Naamen im Gehen, seinen Blick aufzufangen. Er sah Kelis besorgt an, worauf dieser nicht reagierte. Kelis war froh, dass sein Gefährte seine Gedanken nicht laut aussprach, denn er hoffte immer noch, dass er am nächsten Morgen aufwachen und feststellen würde, dass die Umrisse Wolken gewesen waren. Oder Luftspiegelungen – Trugbilder, hervorgerufen von der heißen Luft.
Aber in der klaren Luft des vierten Morgens konnte er die Wahrheit nicht länger verleugnen. Nahe vor ihnen – so unerwartet nahe, als wären sie während der Nacht auf Zehenspitzen vorwärtsgekrochen – stand jetzt eine den ganzen Horizont einnehmende Mauer aus Berggipfeln. Vorgebirge erhoben sich vor geneigten Granitflächen, hinter denen dunkle Hänge
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