Acacia 02 - Die fernen Lande
herumsegeln würde. In Palik, im Gebiet der Balbara, gingen sie von Bord. Bevor sie die Stadt verließen, tauschten sie ihre Kleider erneut gegen andere ein, so dass sie jetzt mehr wie Ziegenhirten aussahen. Auf irgendwelche Fragen würden sie antworten, dass sie auf dem Heimweg waren, nachdem sie ihre Herde verkauft hatten, oder dass sie unterwegs waren, um sich neue Zuchttiere zu besorgen – je nachdem, unter welchen Umständen und von wem sie gefragt wurden.
Shen schien all dies gleichmütig hinzunehmen. Gelegentlich war Kelis in Gegenwart des Mädchens nervös. Sie war ein Kind! Was wusste er schon von Kindern? Was wusste Naamen von Kindern? Sie waren zwei Männer, beide kinderlos, die plötzlich für das Schicksal eines neunjährigen Mädchens verantwortlich waren. In der Gesellschaft wütender Häuptlinge wie Oubadal war er weniger beklommen gewesen. Wie merkwürdig, dass er sich niemals ausgemalt hatte, was für eine Verantwortungsbürde es bedeutete, für ein Kind zu sorgen. Obwohl er in gewisser Hinsicht fand, dass Benabe zu streng war und stets nach Fehlern suchte, war er froh, dass sie da war.
Das empfand er, wenn er in einiger Entfernung stand und nur die Situation betrachtete. Wenn er jedoch morgens neben Shen saß und über einem winzigen Feuer etwas zu essen für sie zubereitete, wenn sie ihn nach Tieren oder Pflanzen fragte, wenn sie sich über ihn lustig machte, indem sie nachahmte, wie heftig er kaute oder wie er das Kinn reckte, wenn er in die Ferne schaute, oder wenn sie sich am Ohrläppchen zog, wie er selbst es manchmal tat, wenn er nachdachte – nun, dann vergaß er seine Besorgnis und kam sich selbst vor wie ein Kind.
Einmal, als sie eine Woche lang ins Innere von Talay unterwegs waren, waren sie bis in die Nacht hinein weitergelaufen, um Abstand zwischen sich und das lachende Geheul einer Laryx-Meute zu bringen. Kelis hatte das Mädchen tragen müssen. Benabe hatte mit ihnen Schritt gehalten. Shen war ihm auf den Rücken gehoben worden, und sie hatte sich an ihm festgehalten. Außerdem hatte er ein Tuch um sie geschlungen, das helfen sollte, sie dort festzuhalten. Eine Weile war ihm ihr Gewicht deutlich bewusst gewesen, die Berührung ihrer Haut, die unschuldige Intimität, mit der sie ihre Beine um ihn geschlungen hatte, und die Reibung ihrer Körper beim Laufen hatten ihn nervös gemacht.
Aber auch das geschah nur, wenn er darüber nachdachte. Schon bald gab er sich ganz dem Laufen hin, sah zu, wie das Land unter ihm dahinglitt, verzückt von der Bewegung seiner Beine, die ihn über die Welt trugen, und beobachtete die Sterne, die am schwarzen Himmel hingen. Als der Mond aufging, erhellte er das Land mit knochenweißen Glanzlichtern, besonders die Blüten der Akazienbäume. Es war ein wunderbares Land. Seine Beine und Arme, seine Lunge und sein Herz waren eins mit ihm. Er vergaß Shen vollkommen und erst, als sie ihre Flucht beendeten und Naamen die Arme ausstreckte, um das Tuch zu lösen, das sie an ihn band, bemerkte er, dass er sie immer noch trug.
»Das ist ein Löwe, oder?«, fragte Shen. Sie war seit langer Zeit die Erste, die etwas sagte.
»Ja, Kind«, flüsterte Benabe.
»Warum brüllt sie so?«
»Nicht sie. Nur die Männchen brüllen so«, sagte ihre Mutter. »Wer kann schon sagen, warum Männer sich beklagen?«
»Bauchschmerzen«, meinte Naamen. »Sein Bauch ist zu voll und zieht ihn zu Boden.«
Kelis lächelte. Neben ihm säuselte die Glut eines allmählich verglimmenden Feuers, knackte und rutschte gelegentlich. In Augenblicken der Stille hörte er ihr gerne zu. Doch solche Augenblicke dauerten niemals lange. Dafür sorgte schon Shens Löwe. Das verzerrt zu ihnen dringende, einsame und wilde Gebrüll verriet Kelis, dass er mehrere Meilen entfernt war. Er hatte die Bewegungen des Tiers im Hinterkopf verfolgt, doch in vielerlei Hinsicht hätte er sie lieber nicht beachtet. Er mochte Löwen nicht. »Er brüllt, damit alle Welt weiß, dass es ihn gibt«, sagte er. »Löwen sind stolz, aber sie sind auch furchtsam.«
Shen stützte sich auf den Ellbogen. Sie lag neben ihrer Mutter auf einer Decke. Es war unwahrscheinlich, dass sie schon viele Nächte im Busch geschlafen hatte, doch nach drei Wochen unter der Kuppel des talayischen Himmels schien sie auf der harten Erde zu Hause zu sein, trug schlichte Kleider und aß die bescheidene Kost, mit der talayische Läufer hier draußen überlebten. »Wovor haben sie Angst?«, fragte sie. »Vor Laryx?«
»Ja, Laryx greifen
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