Acacia 02 - Die fernen Lande
Löwen an«, sagte Kelis. »Sie haben auch Angst vor Menschen, obwohl sie es nicht gerne zugeben.«
Benabe schnaubte. »Sie haben Angst vor uns? Und warum sind sie dann nicht still? Stattdessen verkünden sie deutlich, wo in der Welt sie sind. Wenn ich ein Jäger wäre, würde ich von hier aus losgehen und dem da hinten sagen« – sie machte eine Pause und deutete in die Richtung, aus der das letzte Gebrüll gekommen war –, »dass er das Maul halten soll! Ja, das würde ich tun.« Sie stieß die Finger unter Shens Arme, um ihre Aussage zu unterstreichen. Das Mädchen krümmte sich einen Augenblick lachend.
»Das wäre etwas, vor dem man Angst haben müsste«, sagte Kelis, »aber diese Art von Angst habe ich nicht gemeint. Löwen hungern nach Ruhm. Sie würden freudig im Kampf sterben, solange sie ein paar Gegner mit in die Nacht nehmen können. Sie machen sich ewig Sorgen darüber, dass sie vergessen werden könnten, oder dass man sie nicht ehren oder über sie lachen wird. Deswegen verbringen sie so viel Zeit ihres Lebens damit, andere Kreaturen zu bestrafen. Sie sind kleinliche Tiere. Sie stehlen Tiere, die andere Jäger getötet haben. Sie töten die Jungen kleinerer Katzen und lassen die Kadaver zurück, damit die Mütter sie finden.« Kelis zog sich sein leichtes Gewand über die Brust, nicht weil ihm kalt war, sondern um den Augenblick zu überbrücken, in dem er noch mehr Untaten hätte nennen können. »Sie sind Tyrannen. Deswegen wirken sie so anziehend auf kleinliche Menschen.«
»Sinper Ou hat ein Löwenwappen«, sagte das Mädchen. »Findest du, dass er kleinlich ist?«
»Ja«, sagte Benabe grinsend, »sag es uns, Kelis. Glaubst du, der großartige, reiche Sinper Ou ist ein kleinlicher Mann?«
Kelis räusperte sich. Er war immer noch nicht daran gewöhnt, wie Shen ihn auf vielerlei Art immer wieder auf dem falschen Fuß erwischte, doch er war zu der Überzeugung gelangt, dass sie es nicht böse meinte. Von Benabe konnte er das nicht sagen, aber Shen stellte ihre Fragen, weil sie die Antworten wissen wollte. Sie nahm jede Antwort, die er ihr gab mit demselben aufmerksamen Interesse auf. Tatsächlich sprach er bereits anders mit ihr. Er nannte sie zwar »Kind«, aber er betrachtete sie immer weniger wie andere ihres Alters. Sind andere Kinder auch so?, fragte er sich. Habe ich es nur nicht bemerkt, oder ist sie einfach anders? Er sagte: »Ich glaube nicht, dass Vater Ou Löwen so gut kennt wie ich.«
»Löwen waren nicht immer die Rüpel, die sie jetzt sind«, sagte Naamen. Er saß mit übergeschlagenen Beinen auf der anderen Seite des Feuers und kaute Pfeffergras, um seine Zähne zu reinigen. Was auch immer an Bedeutungsvollem dabei mitschwang, wie Kelis und das Mädchen miteinander umgingen, es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Er sprach leichthin, verfiel in den getragenen Vortragsstil eines Geschichtenerzählers. Shen setzte sich auf, um ihm zuzuhören. »Als der Schöpfer noch auf Erden war, herrschte Friede zwischen Löwen und Laryx und allen anderen Tieren. Sie alle wussten, dass …«
»Still«, sagte Kelis. »Diese Geschichten hat sie schon oft gehört. Sie sollte jetzt schlafen.«
»Nein«, protestierte Shen, »erzähl sie mir. Ich will sie mit Naamens Stimme hören.«
»Nur zu«, sagte Benabe. »Du hast eine gute Stimme für Geschichten.«
Mit triumphierendem Grinsen erzählte der junge Mann weiter. »Sie waren die Schöpfungen des Schöpfers. Sie spürten seine Liebe und wussten, dass er sie unter ihnen allen gleichmäßig verteilte. Es war eine Zeit der Wunder.«
Er beschrieb diese Wunder in phantasievollen Einzelheiten, malte Szenen sowohl mit seinem normalen Arm als auch mit dem verkrüppelten in die Luft. Alle Arten von Tieren hüpften im Gefolge des Schöpfers herum und sangen sein Lob. Alle Kreaturen waren ganz neu geschaffen und glänzten mit der Frische der Schöpfung. Alles war gerade geboren, und in jenen ersten Tagen dachte keine Kreatur daran, eine andere zu fressen. Stattdessen sprangen sie hoch, um reife Früchte von den Bäumen zu pflücken. Shiviths rannten aus purer Freude mit Gazellen um die Wette. Elefanten fochten mit Rhinozerossen wie ausgelassene Freunde. Adler trugen Mäuse in die Luft, sanft umschlossen in ihren Krallen, damit die kleinen Geschöpfe die Freude erleben konnten, aus der Höhe herabzuschauen. Löwen rangen in brüderlichem Wettstreit mit Laryx.
»Kannst du diese Dinge sehen?«, fragte Naamen.
»Ja, das kann ich«, antwortete
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