Acacia 02 - Die fernen Lande
ausgebrütet hatten. Dass Ihr mit ihm zusammen nach einer Möglichkeit gesucht habt, Barad zu ergreifen. Ich habe sogar gesagt, dass Ihr heimlich mit dem Aushenier verlobt wärt. Das ist eine meiner Fähigkeiten: die Wahrheit herauszufinden, selbst wenn der Befragte nichts sagt. Aber es gibt keinen Zweifel. Er war mit Grae im Bunde, und jetzt glaubt er, Grae habe ihn verraten. Ich überbringe ihn Euch in der Hoffnung, dass Ihr Gerechtigkeit walten lasst, wie es sich ziemt.«
Innerlich stürmten hundert verschiedene Gedanken auf Corinn ein. Äußerlich ließ sie sich nichts davon anmerken. Trotz ihres inneren Aufruhrs hörte sie sich ruhig sagen: »Darum werden wir uns schon sehr bald kümmern. Jetzt werde ich mit ihm sprechen.«
Delivegu nahm Haltung an wie ein gehorsamer Diener, eifrig bemüht, ihr zu gefallen und anscheinend glücklich über ihre Reaktion – oder darüber, dass sie keine Reaktion zeigte. An der Tür machte Corinn halt und ließ Delivegu vorausgehen. Sie beugte sich dicht zu Rhrenna und flüsterte ihr zu: »Bring Grae zur oberen Terrasse, während ich dort drin bin. Lass ihn sehen, mit wem ich spreche. Beobachte sein Gesicht. Sag mir, ob ihm irgendwie anzumerken ist, dass er ihn erkennt.«
Es musste einige Zeit verstrichen sein, doch sie hatte kein Gefühl dafür. Sie wusste nicht, warum es so schwierig war, sich zu konzentrieren. Ihr Verstand fühlte sich träge an, gleichzeitig jedoch verspürte sie auch eine Andeutung von Panik, die sich ausbreiten könnte, wenn sie nicht vorsichtig war. Es war nicht nur der Gedanke an Grae, nicht nur die ungläubige Ahnung, dass sie ihn so falsch eingeschätzt haben könnte, nicht nur das erschreckende Wissen, dass er eine Klinge in der Hand gehalten und mit Aaden gefochten hatte, nicht einmal die Erkenntnis, wie nahe sie daran gewesen war, eine Torheit zu begehen.
Nein, zu alledem wurde sie auch noch von Gefühlen übermannt, die sie sich viele Jahre lang nicht zugestanden hatte. Erinnerungen an ihren Vater, an Igguldan, an Hanish: an die Männer, die sie verraten hatten, jeder auf seine eigene Weise. War Grae auch einer von ihnen? War sie immer noch das Dummchen, das sie mit sechzehn gewesen war? Und es kam noch mehr: Bilder von ihrer Mutter während ihrer Krankheit, die Erinnerung daran, auf ihrer Bettdecke zu weinen und zu weinen und zu weinen, während die Frau – die im Sterben lag – versuchte, sie zu trösten. Und schließlich wallte eine Sehnsucht in ihr auf, die ganz tief aus ihrem Innern kam und die sie sich so gut wie nie eingestand: die Sehnsucht, dazusitzen und mit Aliver zu sprechen, jetzt gleich, als lebendige Erwachsene.
Und dann schritt sie hinter Delivegu durch den Türrahmen. Sie betrat den Raum und ging um den Gefangenen herum, bis sie vor dem Stuhl stand. Die Wachen folgten ihr mit den Blicken, und sie sah, wie das kantige Profil des Gefangenen sichtbar wurde und sich mit ihrem Blickwinkel veränderte. Sie richtete ihre ganz Aufmerksamkeit auf ihn, blendete alle Geräusche aus und konzentrierte sich mit jeder Faser ihres Seins auf das Gespräch, das sie gleich führen würde. Es schien notwendig zu sein, den Blick auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, während der Rest der Welt verschwamm. Die Augen des Mannes waren braun und lagen weit auseinander. Als sie sich in ihre Richtung drehten, sahen sie schwer aus, als wäre es bereits eine gewaltige Aufgabe, sie nur zu bewegen, als wären sie aus Stein. Fast konnte sie das Knirschen hören.
»Senk den Blick«, befahl sie. Der Mann starrte sie noch einen Moment länger an und gehorchte dann. »Wie konntest du glauben, der Monarch eines Königreichs würde die Monarchin eines anderen Königreichs verraten … wegen ein paar Bauern? Siehst du nicht, wie dumm das ist? Wie unmöglich? Und mir haben sie erzählt, du seist klug. Verschlagen. Gerissen. Stattdessen bist du nichts von alledem.«
Hatte sie das alles tatsächlich herausgebracht, ohne dass ihre Stimme gezittert oder sie ihre Gefühle verraten hatte? Tatsächlich. Die ungebrochene Aufmerksamkeit des Mannes bestätigte es. Er starrte auf ihre Füße, sagte jedoch nichts.
»Du kannst offen zu mir sprechen«. Corinn traute ihrer Stimme jetzt ein bisschen mehr. »Ich bin nicht leicht zu beleidigen. Und du machst mir auch keine Angst. Wenn deine Sprache grob ist, dann ist das eben so. Auch ich habe ein paar Ecken und Kanten.«
Ein Mundwinkel des Mannes krümmte sich aufwärts. Es sah aus wie ein Tick, ein Zucken seines
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