Acacia 02 - Die fernen Lande
Wangenmuskels, aber der Ausdruck blieb. Ein schiefes Lächeln.
»Nun, sprich. Das tust du doch besonders gerne, oder? Dir Reden ausdenken. Mahnen. Den Massen wirres Zeug erzählen! Versuch es einmal mit einem Publikum, das nur aus einer Person besteht.«
Der Mann neigte den Kopf, so dass sie sein Lächeln nicht mehr sehen konnte. Sie sah, wie er sich sammelte, indem er ein paarmal tief durchatmete. Sie könnte ihn prügeln lassen, dachte sie. Verstümmeln. Töten. Sie könnte – hier und jetzt, auf der Stelle – befehlen, dass ihm die Zunge herausgeschnitten wurde. Dann wäre Schluss mit den Reden. Und dann wurde ihr klar, dass ein Teil von dem, was ihre Gedanken verwirrte, das Lied war. Es tönte laut in ihr, rollte an der Wölbung ihres Schädels entlang wie eine flüssige, mit Geräuschen vermischte Flamme, und es hungerte danach auszubrechen. Sie bräuchte noch nicht einmal jemand anderem zu befehlen, für sie zu handeln. Sie könnte einfach den Mund öffnen und ihn ins Vergessen singen.
»Ihr habt die Träume Eures Bruders verraten.«
Sie sah die Worte auf seinen Lippen, und dann hörte sie sie, und dann brachte sie beides zusammen und verstand sie.
»Ach ja? Und hat mein Bruder dir seine Träume genau beschrieben?«
Barad holte ein paarmal tief Luft, ehe er antwortete, doch als er es tat, war seine Stimme fest und zeigte kein Anzeichen von Falschheit oder Zögern. »Ja. Er hat viele Nächte in meinen Träumen zu mir gesprochen.« Er blickte auf. »Ich denke mir keine Reden aus, Corinn Akaran. Ich wiederhole nur das, woran ich mich erinnere, das, was Aliver mich der Welt zu sagen geheißen hat. Ihr tätet gut daran, selbst zuzuhören. Es ist noch nicht zu spät, Euch vor dem Untergang zu retten.«
Corinn reagierte schneller auf diese Beleidigung als die Marah. Sie erwiderte nichts. Sie öffnete nur ganz leicht den Mund und ließ jenen Liedstrang heraus, der dort bereits wartete. Er glitt auf einem Flüstern durch die Luft, und das, was sie nur gedacht hatte, war getan. Die Augen, die gewagt hatten, sie anzusehen, waren keine Augen mehr. Sie waren steinerne Nachbildungen, an Ort und Stelle erstarrt. Delivegu keuchte auf. Eine der Wachen flüsterte einen verblüfften Fluch. Barad selbst rührte sich nicht. Seine steinernen Augen starrten sie an, ansonsten war sein Gesichtsausdruck unverändert.
Sie wirbelte herum und wandte sich ab.
Eine Stunde später erinnerte sie sich in ihren Arbeitsräumen an den Traum, den sie an genau diesem Morgen gehabt hatte. Darin hatte sie Grae zu sich in ihre Gemächer gerufen. Sie hatte nicht erklärt, warum, doch als er kam, war der Raum von schwachen Laternen erleuchtet gewesen und hatte deutlich nach Weihrauch gerochen. Ein Musiker in einem verborgenen Wandschrank spielte ein leises Lied auf einer Knochenflöte. Und sie stand in einem dünnen, durchsichtigen Unterkleid da.
Seine Augen hatten sich zu großen blauen Kreisen geweitet, als er sie sah.
Unter ihrem Unterkleid war sie nackt. An Graes nervösen Versuchen, seinen Blick zu beherrschen, erkannte sie, dass er es bemerkt hatte. Sie wusste, dass die Kerze neben ihr ihre Rundungen dezent ins rechte Licht setzen würde, und bei dem Gedanken an die Macht, die sie allein dadurch besaß, dass sie einfach so dastand, richteten sich ihre Brustwarzen auf und drückten gegen den dünnen Stoff. Auch das bemerkte er.
»Ich bin keine Jungfrau«, hatte sie gesagt. »Ich bin kein Mädchen, das schamhaft errötet. Ich habe nicht den Wunsch, mich wieder zu verlieben. Diese Dinge sind für mich Vergangenheit. Ich komme als das zu dir, was ich bin. Eine Königin. Eine Mutter. Eine Frau. Diese drei Dinge mögen zu viel für dich sein, um damit umzugehen, aber wenn du glaubst, dass du Monarch genug dafür bist, werde ich dich zum Ehemann nehmen. Das bin ich. Überlege es dir.«
Mit diesen Worten hatte Corinn den Knoten an ihrer Taille gelöst und das Seidengewand von den Schultern gleiten lassen. Sie ließ zu, dass Grae sie von Kopf bis Fuß musterte. Es gefiel ihr, seinen bewundernden Blick zu spüren – und es veranlasste sie dazu, seine Erforschung abzukürzen.
»Ich möchte deine Antwort übrigens jetzt gleich hören.«
Im Traum hatte seine Antwort darin bestanden, aufzustehen und auf sie zuzugehen, wobei er merkwürdig geschwankt und erst den einen und dann den anderen Arm gehoben hatte. Es war ein fremdartiges Ballett, das sie für einen Brauch seines Volkes hielt, für einen Tanz der Kraniche oder etwas in der Art. Sie
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