Acacia 02 - Die fernen Lande
er ein Sammler der Toten«, sagte Naamen. »Er bringt uns zu …«
»Hab Vertrauen. Wenn schon nicht in Leeka, dann in Shen. Sie ist die Einzige von uns, die zählt. Alivers Tochter, erinnerst du dich? Er führt uns durch sie.«
»Ich habe den Prinzen niemals kennengelernt.«
»Dann lerne seine Tochter kennen und fühle dich geehrt.«
Kelis verschwendete keinen Atem mehr, um ihn zu überzeugen. Naamen und Benabe konnten ihre Gedanken auf nichts anderes stützen als auf die Welt, die sie kannten, und die Dinge, die sie gesehen hatten. Keiner von beiden hatte die Santoth gesehen. Kelis hatte sie gesehen. Keiner von beiden hatte Leeka Alain jemals zuvor zu Gesicht bekommen. Kelis schon, und deswegen war er sich sicher, dass sie keine andere Wahl hatten, als ihm zu folgen. Kelis verspürte nicht wirklich die Gewissheit, die er zu vermitteln versuchte, aber was blieb ihm anderes übrig, als allem, was kam, mit Würde entgegenzutreten?
Sie gingen nicht bis ganz so tief in die Nacht wie gewöhnlich, sondern lagerten etwas früher als sonst auf einer Ebene voller länglicher Felsblöcke, die wie schlanke, aufrecht stehende Eier aussahen und mehr als mannshoch waren. Kelis hatte die Felsen erst gesehen, als sie bereits mitten zwischen ihnen gewesen waren – merkwürdig, denn seine Blicke hatten die ganze Zeit nach etwas gesucht, das die Eintönigkeit hätte durchbrechen können. Aber da waren sie. Die Gruppe stand inmitten einer ganzen Ansammlung von Felsen, und die Mienen der anderen verrieten Unbehagen hinter ihrer Müdigkeit.
Leeka bückte sich, grub eine schüsselförmige Vertiefung in den Sand und entfachte darin ein merkwürdiges blaues Feuer. Er hatte keinerlei Flüssigkeit in die Vertiefung gegossen. Und auch nicht mit Feuerstein und Zunder herumgewerkelt. Trotzdem waberte eine Flamme in dem Loch herum wie eine Flüssigkeit, leuchtete in einem grünlichen Schimmer auf und wurde dann zu einem türkisfarbenen Licht, das alle wartenden Gesichter berührte und die Welt hinter ihnen verblassen ließ.
Als das Feuer brannte, das nichts verzehrte, sah Leeka die Gruppe an. Er ließ sie Platz nehmen. Sobald sie saßen, sagte er: »Berührt das Feuer. Es wird euch nicht verbrennen.«
»Es berühren?«, fragte Naamen.
»Ja.« Leeka zeigte es ihnen. Er schob einen Ärmel hoch und stieß seine ausgestreckte Hand in die Substanz. Sie wallte unter seiner Berührung auf, leckte an seinem Unteram. Er zeigte keinerlei Unbehagen, und als er die Hand wieder zurückzog, war sie unverehrt.
»Warum?«, fragte Naamen. »Warum sollen wir es berühren?«
»Ihr solltet tun, was euer Freund euch vorschlägt. Vertraut mir.«
Naamen blickte Kelis an, dann Shen und Benabe. Einen Augenblick lang sah er aus wie ein Kind, das von einem Ältesten ertappt worden war, doch dann presste er die Lippen zusammen und richtete den Blick auf die flüssige Flamme. Er stieß rasch die Finger hinein, gerade ausgestreckt und dicht beieinander, dann zog er sie wieder zurück, starrte sie an und ließ sie abermals hineingleiten. Seine Gesichtszüge lockerten sich vor Erstaunen. »Es ist gar nicht heiß«, sagte er. »Es ist … wie … kühles Wasser.«
»Und wie Wasser«, sagte Leeka, »wird es euch erfrischen. Berührt es und trinkt davon. Es wird euch am Leben erhalten, bis ihr in eure Lande zurückkehrt.«
Schlagartig kehrte Kelis’ Durst zurück, der sich so tief in sein Inneres zurückgezogen hatte, dass er ihm gar nicht mehr bewusst gewesen war. Nichts hatte jemals so verlockend gewirkt wie die feurige Flüssigkeit. Er tauchte seine Hand hinein, und als sie wieder herauskam, troffen Flammen von ihr herab. Naamen hatte recht. Es fühlte sich kühl an. Er führte die Hand an die Lippen. Es war wunderbar und wie flüssiges Leben, als es seine Kehle hinunterrann. Er spürte, wie es seine Mitte erreichte und sich auszubreiten begann, als würde es in die Adern seines Körpers schlüpfen. Nur eine Handvoll, und dann hockte er sich auf die Fersen, das Gesicht zum Himmel geneigt, die Augen geschlossen und vollkommen gefüllt. Einige Zeit lang vergaß er alles, spürte nur vage, dass die anderen das Gleiche getan hatten.
»Die Santoth sind hier«, sagte Leeka. »Sie danken euch, dass ihr die Erbin zu ihnen gebracht habt. Sie wird geliebt. Sie werden jetzt eure Fragen beantworten.«
Kelis, der sich daran erinnerte, wie er die Zauberer an jenem Tag auf der Ebene gesehen hatte, öffnete die Augen und schaute sich um. Er und die vier anderen waren allein.
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