Acacia 02 - Die fernen Lande

Worte übel zu nehmen.
    Mór sah ihn unverwandt an. In ihren katzenhaften Gesichtszügen war nicht ein Hauch von Humor zu entdecken. »Wie eine Missgeburt, sage ich. Oder ein Abtrünniger. Andere, die dich sehen, werden dich für ein Kind halten, das in seinem Leben noch nichts geleistet hat. Für unwürdig. Und ohne Zugehörigkeitszeichen wird nichts, was du sagst, ihre Meinung ändern. Außerdem wird dein unansehnliches Gesicht für alle Zeit dein Akaran-Blut verraten. Das könnte beim Volk für dich den Tod bedeuten.«
    »Und wie wäre es damit, einfach ein paar Flecken oder so etwas aufzumalen? Mit Griffel und Tinte, so in der Art.«
    »Bestimmt hat man dir das bereits erklärt. Sollten die Göttlichen Kinder dich verhören, würden irgendwelche ›Griffel-und-Tinte-Tricks‹ schnell entdeckt werden. Nein, dein Schicksal hat dich hierhergeführt – genauso, wie meines mich hierhergebracht hat. Die Tätowierungen müssen echt sein.«
    »Warum glaube ich bloß, dass dir das Spaß machen wird?«, fragte Dariel und lächelte schief.
    »Du meinst, weil es wehtut?«, antwortete sie mit einer spielerischen Unschuld, die Dariel noch nie bei ihr erlebt hatte. »Dariel Akaran, wenn ich dir Schmerzen zufügen will, dann bestimmt nicht hiermit. Ich würde ein richtiges Werkzeug dafür finden. Glaub mir.«
    Daran zweifle ich nicht, dachte Dariel. Ganz und gar nicht. Ich trage immer noch die Narben von unserer ersten Begegnung, schon vergessen? Während sie weitersprach, musste er sich befehlen, nicht ganz so breit zu grinsen. Er sollte nicht so erfreut über das hier sein. Das Tätowieren würde wehtun, und es würde dauerhaft sein. Was würde Corinn denken, wenn sie ihn wiedersah? Falls sie ihn jemals wiedersah … Sie würde so etwas niemals verstehen oder billigen. Es würde wie ein Akt der Unterwerfung aussehen, eine Herabsetzung seiner selbst und seines Standes als acacischer Prinz. Sie würde von ihm erwarten, dass er ihnen allen befehlen würde, nach seiner Pfeife zu tanzen. Bei dem Gedanken hätte er beinahe laut aufgelacht. Natürlich hatte er in verschiedenen Rollen viele Leute befehligt – als Akaran wie auch als Pirat –, das hier jedoch war anders, auf eine Weise, die Corinn vielleicht niemals verstehen würde.
    Außerdem schien die Bekannte Welt zunehmend weit, weit weg zu sein, nicht nur in Meilen gemessen, sondern auch als Fixpunkt seiner Gedanken. Wenn er mit Tunnel und Skylene und einigen der anderen zusammensaß und mit ihnen sprach, überwältigt von den Schrecknissen und der Größe von Ushen Brae, musste Dariel sich immer wieder dazu zwingen, seine Heimat im Blick zu behalten. Er wusste, dass sein Land in Gefahr war, dass ihm ein Angriff der Auldek drohte. Noch immer war ihm nicht ganz klar, wie groß diese Bedrohung war, aber er versuchte, sich daran zu erinnern und an Corinn und Mena und Wren zu denken, und an all die Gefährten aus seinen Seeräubertagen und die einfachen Leute, die er während seiner Wiederaufbau-Arbeiten kennen und schätzen gelernt hatte. Sie waren wichtig. Und er musste zu ihnen zurückkehren.
    »Das wird dein zeitweiliger Passierschein sein«, sagte Mór, »auch wenn die Tätowierungen selbst bleiben werden. Möglicherweise lässt du uns doch noch im Stich, Prinz Dariel, aber man hat mir gesagt, ich soll dir die Zeit und die Freiheit geben, unter uns zu weilen. Das ist eine Chance, nicht zu versagen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich hoffe, du versagst nicht.«
    Dariel nickte. Da er noch nie ein geschickter Lügner gewesen war, war das das Beste, was er tun konnte, um seine Entschlossenheit auszudrücken. In Wirklichkeit hatte er den Auftrag, den Mór ihm angeboten hatte, aus eigenen Gründen angenommen. Ja, er würde zu einer kleinen Gruppe gehören, die losgeschickt wurde, um ein Boot der Lothan Aklun zu stehlen, ein Seelenschiff. Eines dieser Boote war am südlichen Ende des Lagerhausviertels festgemacht gefunden worden. Die Gilde hatte es vermutlich noch nicht entdeckt, weil eine Reihe von Schären – kleinen felsigen Inseln – den Blick vom offenen Meer versperrte. Dariel würde beweisen, dass er tatsächlich der Pirat war, der gewesen zu sein er behauptete. Er würde der Kapitän des Bootes sein, würde es nach Süden steuern, in ein Marschland namens Sumerled, wo sie es auf Grund setzen und anzünden würden; so würden sie verhindern, dass es der Gilde in die Hände fiel, und – was noch wichtiger war – die Seelen befreien, die darin