Acacia 02 - Die fernen Lande
furchterregend und fröhlich zugleich. Dariel dachte bei sich, dass er den jungen Mann gern zum Freund haben würde, sollte er jemals wieder die Muße haben, Freundschaften schließen zu können.
Als die Gruppe sich an der Ecke eines Lagerhauses sammelte, war die Sonne untergegangen und der Himmel hatte die dunkle Färbung des frühen Abends angenommen. Dariel konnte das Meer riechen. Es ist so nah, dachte er, nur eine Mauer weit entfernt. Für ihn roch es nach Freiheit. Skylene schickte Birké und einen zweiten Mann los, um das letzte Wegstück bis zu ihrem Ziel auszukundschaften. Die anderen warteten. Dariel fand sich neben Skylene wieder. Sie drückte sich dicht an ihn, dichter, als notwendig schien. Er wusste, warum. Sie starrte sein frisch tätowiertes Gesicht an.
»Ich kann mich nicht daran gewöhnen, dich so zu sehen«, sagte sie. »Du siehst aus wie einer von uns, aber ich habe so lange dagesessen und mit dir gesprochen, ich weiß, dass du keiner von uns …«
»Vielleicht werde ich ja zu einem von euch «, unterbrach Dariel sie. Sein Gesicht war immer noch wund, und er empfand die Berührung ihres Blicks unwillkürlich als körperlichen Schmerz. »Gib mir wenigstens die Chance.«
Skylenes Blick ließ ihn nicht los. »Das hat Mór bestimmt Spaß gemacht. Hat sie dafür gesorgt, dass es wehgetan hat?«
»Wie meinst du das? Natürlich hat es wehgetan.«
Lächelnd sagte Skylene: »Es tut nicht weh, wenn man Kenvu-Wurzeln kaut. Die töten die Empfindlichkeit der Haut ab.« Mit der Fingerspitze berührte sie eine Stelle in seinem Gesicht. »Das macht das Tätowieren schmerzlos. Hat sie davon nichts gesagt?«
»Nein, davon hat sie nichts gesagt«, schnappte Dariel. »Was ist eigentlich mit ihr los? Macht es ihr einfach nur Spaß, mir wehzutun? Mich zu schlagen? Mich mit Nadeln zu stechen? Mich bei jeder Gelegenheit zu beleidigen? Ist sie immer so? Auch zu anderen?«
»Mór ist schon seit vielen Jahren eine vom Freien Volk«, sagte Skylene. »Ihr Problem ist nicht, dass sie grausam ist. Sondern dass sie zu sehr liebt, sich zu sehr sorgt. Sie vermisst ihre andere …« Skylene verstummte abrupt, schüttelte ab, was auch immer sie hatte sagen wollen. Stattdessen fuhr sie in einem leichteren Tonfall fort: »Jedenfalls macht es ihr keinen Spaß, jemandem wehzutun. Ich glaube, in Wirklichkeit mag sie dich.«
»Sag es ihm«, sagte Tunnel ermunternd. »Sag ihm, was er wissen sollte.«
Skylene sah ihn scharf an. »Wir unterhalten uns später.«
»Bitte«, sagte Dariel, »sag es mir. Was weiß ich nicht von ihr?«
»Oh … Mór will nichts für sich selbst, nur eines.« Obwohl sie sich entschieden hatte, dauerte es einen Moment, bis Skylene weitersprechen konnte. »Sie hatte einen Bruder. Einen Zwillingsbruder – Ravi. Sie wurden zusammen gefangen genommen, aber sie sind getrennt worden, als sie in Ushen Brae angekommen sind.«
»Also, was … sucht sie nach ihm?«
»In gewisser Hinsicht … ja. Er ist kein Sklave geworden. Er wurde verzehrt. Seine Seele wurde ihm genommen und einem Auldek gegeben. Mór will ihn finden. Ich weiß nicht, was sie ihrer Meinung nach dann tun könnte. Ich glaube nicht einmal, dass sie es weiß. Aber sie waren Zwillinge. Verstehst du? Sie waren im Mutterleib zusammen. Sie sind zwei Hälften eines Ganzen. Sie kann spüren, dass er irgendwo fortdauert. Und obwohl er im Körper eines Auldek lebt, will sie ihm gegenübertreten … ihn vielleicht befreien. Aber jetzt sollten wir aufhören, Zeit zu vergeuden. Lasst uns gehen. Da ist Birké. Los, schnell.«
Sie deutete auf die schattenhafte Gestalt, die gerade eben am hinteren Ende des Lagerhauses aufgetaucht war. Birké winkte und zeigte damit an, dass – zumindest vorübergehend – keine Göttlichen Kinder in der Nähe waren. Dariel stellte keine Fragen mehr. Er folgte Skylene, und hinter ihm kamen Tunnel und die anderen. Der Rest ihres Marsches war kurz. Sie schritten einige Zeit lang durch einen dunklen Gang, schlängelten sich dann durch ein weiteres unordentliches Lagerhaus und traten schließlich auf einen Kai hinaus. Die salzige Luft, die vom Wasser heranwehte, war wundervoll. Dariel sog sie tief ein und genoss die feuchte Berührung der Meeresbrise auf seiner Haut. Sie erinnerte ihn sofort an Val, den Mann, den er als Heizer der Palastöfen kennengelernt hatte und der ihn später in einer abgelegenen Hütte vor dem Tode gerettet und als Pirat großgezogen hatte. Und der ihn die Liebe zum Meer gelehrt hatte. Sein zweiter
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