Acacia 02 - Die fernen Lande
sich nicht so entwickelt, wie wir es erwartet haben«, räumte Sire Dagon ein. »Unser Wissen über die Auldek war … unvollständig. Und fehlerhaft, fürchte ich.«
Als Antwort wogte Stimmengemurmel durch das düstere Ratszimmer der Gilde.
»Ihr untertreibt.« Sire Graus Stimme klang ungewohnt deutlich; seinem Tonfall war sein fortgeschrittenes Alter nicht anzumerken. Dagon erkannte, was seiner Stimme Kraft verlieh: flammender Zorn, der aus der schwelenden Glut, die Grau normalerweise antrieb, entfacht worden war. »Neen hat gesehen, was er sehen wollte, nicht das, was wirklich war! Er hat aufgrund dessen gehandelt, was er glauben wollte, von Gefühlen getrieben und blind für die Mängel seines Verhaltens. Selten hat ein Gildenmann so schwere Fehler gemacht.«
Sire Grau saß neben Dagon im innersten Kreis. Die beiden Männer sahen sich nicht an. Normalerweise hatte der Nebel eine beruhigende Wirkung, so dass sie alle Geschäfte des Rats – ganz gleich, wie verdrießlich sie auch waren – ruhig und mit schweren Lidern abhandelten. Dieses Mal spürte Dagon, dass sich eine Klarheit seines Denkens bemächtigt hatte, welche nicht im Geringsten durch das Unbehagen gedämpft wurde, das in Wogen durch das Zimmer schwappte. Es war viele, viele Jahre her, seit sie sich zum letzten Mal getroffen hatten, um so viele Geschehnisse zu besprechen, die sie nicht vollständig unter Kontrolle hatten. Für die Jüngeren unter ihnen war es das erste Mal.
Sire Faleen beruhigte sie, obwohl seine Autorität geringer war als die von Grau. Doch als Sprecher des Rates fiel es ihm zu, die Richtung zu bestimmen, die das Treffen nahm. Dagon hatte ganz und gar nichts dagegen, dass er sich als Erstes Sire Neens Fiasko in Ushen Brae zuwandte. Er ließ sie an allem teilhaben, was er darüber wusste, und das war eine ganze Menge. Sie hatten die Gedanken der wenigen Ishtat erforscht, die lebendig von dem Treffen mit Devoth zurückgekehrt waren. Kein Gildenmann war aus dem Saal jenes Schlächters entkommen, aber die Köpfe der Ishtat enthielten Bilder von dem Blutbad und zumindest Bruchstücke des Gesprächs, das Neens plötzlicher Enthauptung vorangegangen war. Alle waren sich einig, dass er es hätte kommen sehen müssen. Devoth hatte seine Absichten durch seine Bewegungen verraten, und dadurch, wie er sich umgeschaut hatte. Neen hatte zu sehr in dem zweifelhaften Sieg über die Lothan Aklun geschwelgt, um es zu erkennen, war sich zu sicher gewesen, dass er den Reichtum der ganzen Welt in den Händen hielt.
»Dieser Narr«, ertönte mehr als eine Stimme.
Faleen bestritt dies nicht. »Sire Neen hat schwerwiegende Fehler begangen. Diese Fehler kommen uns teuer zu stehen.«
»Er hat das Ganze auf wirklich ungeschickte Weise falsch gehandhabt«, ließ sich eine Stimme aus der zweiten Reihe vernehmen. »Sollte er vergessen werden?«
Zustimmendes Gemurmel antwortete diesem Vorschlag. »Ja. Ja. Er soll vergessen werden«, sagten mehrere Stimmen gleichzeitig.
Am eifrigsten stimmten die äußeren Reihen zu. Neens Tod würde einem von ihnen schneller Zutritt zum inneren Kreis verschaffen. Dagon reckte den Hals ein wenig und ließ seine Blicke umherwandern; er suchte den Mann, der vorgeschlagen hatte, Neen zu vergessen. Und er entdeckte ihn. Ein schmales Gesicht mit weit auseinanderstehenden Augen, deren äußere Winkel sich nach unten neigten. Wie war noch sein Name? Lethel. Sire Lethel. Er war Neens Vetter zweiten Grades. So viel zu Familientreue. Doch in der Gilde würde niemand daran etwas auszusetzen haben. In Wahrheit teilten sie alle ähnliches Blut.
»Er mag vergessen werden, aber seine Irrtümer sollten nicht vergessen werden«, sagte Sire El.
Zustimmendes Brummen. »Vergessen wir den Mann, aber erinnern wir uns seiner Dummheit, damit wir sie nicht ein zweites Mal begehen.«
Dagon wusste nicht recht, wie man diese spezielle Art von Dummheit ein zweites Mal begehen könnte, doch er ließ zu, dass ein leises Grollen in seiner Kehle aufstieg, das seine Zustimmung zu dem Vorschlag ausdrückte.
»Dann wird er also vergessen«, sagte Faleen einige Zeit später, als offensichtlich war, dass niemand Einwände erhob.
Dieser Punkt war schnell abgehandelt. Zu entscheiden, was nun mit Ushen Brae geschehen sollte, nachdem sich so viel geändert hatte, dauerte hingegen deutlich länger. Sie gingen das Ganze mehrere Male durch, loteten ihre Möglichkeiten ebenso aus wie die Probleme oder die Wahrscheinlichkeit, etwas von dem einst so blühenden
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