Acacia 02 - Die fernen Lande
traf und auf jene schwingenden Baumstämme, die er Beine nannte.
Rialus achtete sorgsam darauf, jeden Blick auf diese Partien der Anatomie des Auldek zu vermeiden, denn er verspürte dabei das gleiche Unbehagen, das er in Gegenwart reinrassiger Tiere empfand. Alle Kreaturen, die für Gewalt geschaffen waren und denen eine verborgene sexuelle Kraft innewohnte, beunruhigten ihn. Er bezweifelte, dass es irgendjemanden in der Bekannten Welt gab, der es mit Devoths Statur aufnehmen konnte. Ganz gewiss keinen Acacier und wahrscheinlich auch keinen Mein; keinen Halaly oder Candovier; nicht einmal ein außergewöhnlicher, blonder Aushenier aus der Gradthischen Gebirgskette würde die Größe des Lvin erreichen – acht barbarisch proportionierte Fuß.
Das sind eben die Vorteile, wenn man über vierhundert Jahre mit nichts anderem verbracht hat, als sich im Kampf zu üben und auf einen Krieg vorzubereiten, dachte Rialus. Und damit, Kolibris beizubringen, süßes Wasser aus dem eigenen Mund zu trinken, zahme Löwen aufzuziehen und bei Geländeläufen über zwanzig, dreißig oder fünfzig Meilen um den Sieg zu wetteifern. Sich im Bogenschießen zu üben, epische Gedichte vorzutragen und mit Pinsel und Tusche zu zeichnen. Ja, Rialus hatte jeden Tag mehr über die Auldek erfahren. Allerdings half ihm sein neu erworbenes Wissen nicht im Geringsten dabei, mehr Sinn in irgendetwas von dem zu erkennen, was mit ihnen zu tun hatte. Nichts wog das Wissen auf, dass die gesamte Auldek-Nation nach Krieg gierte, dass sie diesem Krieg mit atemloser, beinahe schon kindlicher Vorfreude entgegenstürmten. Und obwohl er bei der Planung der kommenden Invasion eine wichtige Rolle spielte, war dieser Tag dennoch unerwartet gekommen. Wie es schien, bewegten sich die Dinge ebenso schnell, wie der Auldek von seinen gewaltigen Schritten vorwärtsgetragen wurde.
So kam es, dass Devoth, Rialus und ihre kleine Gruppe das Gebiet der Lvin in Avina in flottem Tempo verließen. Sie schritten auf einem hochgelegenen Wegenetz dahin, das sie in einem Bezirk, den Rialus bisher noch nicht besucht hatte, von Dach zu Dach führte. Nachdem sie wieder auf die Straße hinuntergestiegen waren, marschierten sie einige Zeit eine Durchgangsstraße entlang, auf der es von vollkommen außer Rand und Band geratenen Zuschauern – größtenteils Sklaven – nur so wimmelte. Die Sklaven riefen ihnen aufmunternd zu und klatschten; manche schlugen Zimbeln aneinander. Die jüngsten warfen aus Papier gefaltete Vögel oder Insekten; ein weiterer Zeitvertreib der Auldek. Die leichten Papierflieger schwirrten über ihren Köpfen durch die Luft. Waren sie glücklich, weil sie wussten, dass die Auldenk fortgingen? Es hatte nicht den Anschein. Die Begeisterung schien echt zu sein, und die Tränen, die manche in den Augen hatten, kündeten von Freude und Trauer. Rialus würde Sklaven niemals verstehen.
Binnen kürzester Zeit schweißgebadet, genoss Rialus die Kühle, als sie einen unterirdischen Gang betraten. Die Auldek links und rechts von Devoth unterhielten sich im Gehen, doch Rialus folgte ihrem Gespräch nicht. Er hatte genug damit zu tun, Schritt zu halten.
Und dann traten sie wieder ins Sonnenlicht hinaus. Devoth führte sie über ein Rechteck aus rosafarbenem Marmor und machte sich dann daran, eine breite Treppe hinaufzusteigen. Darüber war nichts als ein strahlend blauer, nur von ein paar hohen Streifenwolken gezierter Himmel, der einen wunderschönen Tag versprach. Erst als er ungefähr die Hälfte des Aufstiegs hinter sich hatte, wurde er langsamer. Er holte tief Luft, den Kopf leicht nach hinten geneigt. Rialus tat das Gleiche, und er bildete sich ein, er könnte den Geruch und die Essenz vieler, vieler Seelen riechen.
Devoth blieb stehen. Er drehte sich nicht ganz um, wandte aber den Kopf weit genug, dass Rialus sein scharf geschnittenes Profil sehen konnte. Seine langen Haare wogten in kastanienbraunen Wellen über seine Schultern. »Bist du bereit, dich überwältigen zu lassen, Rialus Gildenmann? Ich glaube, dies hier wird ein Anblick sein, wie du ihn noch nie zuvor gesehen hast.«
Ehrlich gesagt, dachte Rialus, bin ich es ziemlich leid, überwältigt zu werden. Diese ganze Reise: die Wogen des Massivs und die Seewölfe der Grauen Hänge, der Durchbruch durch den Zornwall und die gewaltigen Barriere-Inseln, die unzähligen Leichen im Meer und das Chaos nach Sire Neens Enthauptung und … die Liste nahm schier kein Ende, und so wie es aussah, würde es noch
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