Acacia 02 - Die fernen Lande
wurden. Die Ous waren nicht die Sorte Gesellschaft, in der Sangae sich normalerweise aufhielt. Nichts von alledem klang richtig.
»Weißt du, warum er mich zu sich ruft?« Kelis’ Blick blieb unabsichtlich an dem verkrüppelten Arm des Jungen hängen. »Und warum er dich geschickt hat?«
»Nein, ich weiß nicht, warum er dich bei sich haben will«, antwortete der Junge, »aber er hat mich geschickt, weil ich schnell bin. Dieser Arm macht meine Beine nicht langsamer. Er zerteilt den Wind für mich.«
»Bestimmt …«
»Du wirst dich anstrengen müssen, um mit mir mitzuhalten«, sagte der Junge.
Kelis lächelte, erwiderte jedoch nichts. Mut hatte der Junge zumindest. Er sagte ihm, wo er etwas zu essen und zu trinken und eine Unterkunft für die Nacht finden konnte, und versprach ihm, dass er mit ihm laufen würde, sobald er der Prinzessin geholfen hatte. Das hieß, wenn sie einwilligte, ihn ziehen zu lassen.
Später, als er allein auf seiner harten Schlafmatte lag, konnte Kelis nicht aufhören, sich nach all den Möglichkeiten zu sehnen, die durch Maeanders Schwertspitze beendet worden waren. In Menas Nähe zu sein, bedeutete, dass die Erinnerungen an Aliver auch ohne äußerliche Andenken immer ganz nah waren. Sie lagen wie Gegenstände unter einer Wasseroberfläche, die manchmal ruhig und klar war und zu anderen Zeiten von der Strömung aufgewirbelt oder von Wolken beschattet wurde oder die die Welt über ihr wie ein sich bewegender Spiegel reflektierte. Alivers Tod hatte sich für ihn niemals echt angefühlt. Oft hatte er Tagträume von dem Jungen, mit dem zusammen er groß und stark geworden war, von dem Mann, den er auf seine stille Weise geliebt hatte. Er bewahrte in seinem Innern Bilder und Redensarten und ein paar Sätze aus Unterhaltungen, an die er sich erinnerte, und sie schienen ihm echter zu sein als die Jahre, die ihn von jenen freudigen Augenblicken trennten. Und in seinen Träumen lebte Aliver. Er stand vor ihm, ironisch, wusste genau, dass er dem Tode entronnen war und war deswegen irgendwie verwirrt. Schön auf eine Weise, wie es kein anderer Mensch in Kelis’ Augen jemals gewesen war.
Er war immer verlegen, wenn er aus diesen Träumen aufwachte. Als Junge war er ein Träumer gewesen, einer von den wenigen, die das Wetter und die Wendungen des Schicksals vorhersagen und einen Sinn in den Zeichen erkennen konnten, die zu ihm kamen, während er schlief. Sein Vater hatte diese Gabe gehasst, denn sie hatte bedeutet, dass sein Erstgeborener kein Krieger werden und daher den Sitz der Familie im Rat nicht sichern würde. Es war Kelis’ Vater gelungen, dem jungen Mann die Gabe auszuprügeln, indem er ihn aus dem Schlaf gerissen, Träumen mit Schmerzen in Verbindung gebracht, ihn schlecht gemacht hatte, als wäre diese Begabung eine Beleidigung seiner Männlichkeit. Kelis hatte schließlich nachgegeben, als sein Vater einen anderen als Erstgeborenen adoptiert hatte. Zur Freude seines Vaters tötete Kelis den Jungen, erhob erneut Anspruch auf seine Position und ersetzte seine Traumvisionen mit Bildern, wie er seinem Bruder den Speer in den Bauch gestoßen hatte und die Eingeweide sich um die Speerspitze geschlungen hatten. Dies durchlebte er im Schlaf jahrelang jede Nacht; eine nächtliche Strafe.
Nach Alivers Tod hörten seine Träume einige Zeit lang auf. Weder wenn er wach war, noch wenn er schlief, konnte er sich an den Augenblick erinnern, als der Prinz gestorben war. Es war ein leerer Fleck, in den er nicht hineinsehen konnte, eine Leere, an die er jede Nacht erinnert wurde, ganz gleich, wie ausgefüllt mit Leben und Arbeit seine Tage waren. Und als er wieder zu träumen begonnen hatte, vor ein paar Monaten, hatte er von Aliver geträumt, der ins Leben zurückgekehrt war. Was konnte das bedeuten? War da irgendein Zeichen verborgen, das zu deuten er lernen musste? War es möglich, dass er jetzt der Träumer wurde, den sein Vater – der inzwischen ebenfalls tot war – auszulöschen versucht hatte? Gewiss, der Prinz sollte nicht tot sein. Er konnte nicht tot sein! Das war eine Irrtum gewesen, irgendeine verräterische Tat der Mein, und alle anderen waren närrisch genug gewesen, es hinzunehmen.
In der Nacht, nachdem er den Befehl bekommen und gesehen hatte, wie Mena versuchte, den alternden Häuptling zu trösten, schlief Kelis nicht. Stattdessen lag er mit offenen Augen auf seiner Matte und stellte sich vor, nach Süden zu reisen anstatt sich nach Norden zu begeben, nach Bocoum. Was, wenn er
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