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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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angewidert, ja, aber
gleichzeitig erfüllt ihn ein Hochgefühl. Das Knacken
aufbrechender Panzer übertönt das Vogelgezwitscher ringsum.
Offenbar sind die Gesandten der Wunch dabei, verschiedene neue,
vermutlich tödliche Formen anzunehmen. »Anscheinend
wissen sie nicht genau, wie sie es anstellen sollen, einen
simulierten Ort einzunehmen«, sendet er. »Vielleicht
sind wir für sie bereits ein nicht übersetzbares
Konzept #1, soweit es sie selbst betrifft.«
    »Mach dir keine Sorgen, ich hab die Eingangsverbindung
gekappt«, meldet sich Su Ang. »Das hier ist nur die
Vorhut. Die Datenpakete zur Invasion filtere ich gerade
heraus.«
    Männer und Frauen in staubigen schwarzen Uniformen
schlüpfen mit leerem Blick aus den Hummerpanzern, stolpern
vorwärts und rennen auf dem Gelände des königlichen
Palasts wie desorientierte hugenottische Invasoren herum.
    Hinter Pierre flimmert der Umriss von Boris auf und gewinnt
Gestalt. »Welche Richtung?«, fragt er und zieht ein
anachronistisches, aber tödliches japanisches Schwert.
    »Hierher. Am besten, wir fechten’s gemeinsam aus.«
Pierre stellt den Dämpfer für seine Emotionen auf eine
gefährlich hohe Stufe, unterdrückt damit seine
natürlichen Ekelreflexe und verwandelt sich vorübergehend
in einen soziopathischen Killer. Mit steifen Schritten geht er auf
ein kindlich wirkendes, winziges Hummer-Ding mit großen
schwarzen Augen und einem Überzug aus weißen Haaren zu,
das ihm von einem Rosenbeet aus etwas zuquäkt. Boris wendet den
Blick ab, während Pierre das Ding tötet. Als gleich darauf
eine der größeren Kreaturen den Fehler begeht, sich auf
Boris zu stürzen, versetzt er ihm aus einem Reflex heraus einen
Hieb.
    Manche der Wunch versuchen zurückzuschlagen, als Pierre und
Boris sie töten wollen, doch ihre Anatomie – eine kuriose
Mischung aus Krustentier und Mensch – behindert sie. Es ist ein
Kampf von Klauen und Kauwerkzeugen gegen Schwert und Degen. Als sie
bluten, tränkt sich der Boden mit der kupferfarbenen
Körperflüssigkeit von Hummern.
    »Am besten, wir spalten uns in mehrere Verkörperungen
auf«, schlägt Boris vor. »Bringen wir’s hinter
uns.« Pierre nickt teilnahmslos. Bis auf einen Funken
künstlich induzierten Hasses tief in seinem Innern ist alles um
ihn herum in eine Wattewolke von Gleichgültigkeit gehüllt.
Sie spalten sich in mehrere Inkarnationen auf, vervielfachen ihre
Zustandsvektoren, um die Möglichkeiten, welche die
Virtualisierung in diesem Universum bietet, voll auszuschöpfen.
Dabei benötigen sie keine Verstärkung: Als die Wunch sich
darauf verlegten, das biophysikalische Modell dieses Universums zu
attackieren, ließen sie es die physikalische Realität so
weit wie nur möglich nachahmen, sorgten für eine
lebensechte Umgebung, achteten jedoch nicht darauf, sich die
komplizierten Taktiken anzueignen, die ein virtueller Raum bei
Kampfhandlungen zulässt.
    Gegenwärtig findet sich Pierre im Audienzsaal wieder, er
lehnt an der Rückseite von Ambers Thron. Gesicht, Hände und
Kleidung sind mit ekelhaftem Schleim überzogen. Hier gibt es nur
eine einzige Verkörperung von ihm. Eine von Boris – die
Einzige? – steht nahe am Eingang. Er kann sich kaum daran
erinnern, was geschehen ist. Ein gründlicher Trauma-Filter hat
die Schrecken des Massenmords, den er in verschiedenen
Verkörperungen begangen hat, aus seinem Langzeitgedächtnis
getilgt. »Sieht so aus, als hätten wir die Lage
bereinigt«, ruft er laut. »Was sollen wir jetzt
tun?«
    »Darauf warten, dass Katharina de Medici auftaucht«,
erwidert die Katze, während ihr Grinsen wie das einer
bedrohlichen Gottheit vor ihm Gestalt gewinnt. »Amber findet
immer eine Möglichkeit, ihre Mutter zu bestrafen. Oder wusstest
du das noch nicht?«
    Pierre blickt auf den blutigen Schlamassel draußen auf dem
Pfad, wo die erste Hummerfrau Glashwiecz attackiert hat. »Das
habe ich bereits für Amber erledigt, glaube ich.« Er
erinnert sich in der dritten Person daran, alle Subjektivität
ist aus seinem Gedächtnis gelöscht. »Die
Familienähnlichkeit war umwerfend«, murmelt der Agent, der
die Erinnerung an die Frau noch im Arbeitsspeicher hat. »Hoffe
nur, dass das bloß äußerlich ist.« Gleich
darauf vergisst Pierre das, was ihm wie Mord vorkommt, für alle
Zeiten. »Sag der Königin, dass ich jetzt bereit bin, mit
ihr zu sprechen.«
     

     
Willkommen auf der abfallenden Seite der Kurve
beschleunigten Fortschritts, der Gegenseite.
    Wenden wir uns wieder dem Sonnensystem zu.

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