Accelerando
ist, wie ihm klar ist, ein Versagen –
wenngleich typisch für seine Generation.
Er gehört der Generation der schiitischen Geistlichkeit an,
die auf die Exzesse des vergangenen Jahrhunderts mit Rückzug
reagiert hat, der Generation, die die ulama von der weltlichen
Macht abtrennte, von der velyat i-faqih Khomeinis und seiner
Nachfolger Abstand nahm, das Regieren dem Volk überließ
und damit begann, sich gründlich mit den Paradoxien der Moderne
zu befassen. Das, was bei Sadeq im Mittelpunkt steht, was ihn
antreibt und bei seinen theologischen Studien ständig
beschäftigt, ist die programmatische Neubewertung von
Eschatologie und Kosmologie. Hier, in einem Turm aus weißen,
von der Sonne gebrannten Lehmziegeln, auf einer endlosen Ebene, die
nur in den imaginären Räumen eines Sternenschiffs von der
Größe einer Softdrink-Dose existiert, verbringt der
Geistliche die Rechnerzyklen in Kontemplation. Er denkt über
eines der kompliziertesten Probleme nach, mit denen ein Mudschahedin
sich je konfrontiert sah: über das Fermi-Paradox.
(Als Enrico Fermi eines Tages zu Mittag aß, diskutierten
seine Kollegen die Frage, ob weit fortgeschrittene Zivilisationen
womöglich andere Welten bevölkern könnten.
»Ja«, sagte er. »Aber wenn das zutrifft, wieso haben
sie uns dann noch nicht besucht?«)
Nahezu lautlos beendet Sadeq die Abendandacht. Danach steht er
auf, streckt sich nach alter Gewohnheit und verlässt den
kleinen, einsamen Hof am Fuße des Turms. Das von der Sonne
angewärmte schmiedeeiserne Tor quietscht leise, als er es
öffnet. Mit gerunzelter Stirn mustert er die obere Türangel
und wünscht sich, sie wäre nicht so rostig. Das hier
herrschende physikalische Modell registriert seine
Zugangsberechtigung und reagiert auf den Wunsch: Der dünne
rötliche Rand rund um den Türzapfen nimmt einen frischen
silbernen Farbton an, und das Quietschen hört auf.
Nachdem Sadeq das Tor hinter sich zugemacht hat, betritt er den
Turm. Mit schweren gleichmäßigen Schritten steigt er eine
Wendeltreppe hoch, die sich in endlosen Spiralen nach oben windet. In
die Außenwand der Treppe sind Fensterschlitze eingelassen;
jedes der Fenster bietet Aussicht auf eine andere Welt. Durch eines
sieht Sadeq, wie die Nacht hereinbricht, es ist der Monat des
Ramadan. Durch das nächste Fenster blickt er auf einen
grünlichen, nebelverhangenen Himmel und einen Horizont, der viel
zu nah ist. Sorgsam vermeidet er es, über die Implikationen
dieses vielgestaltigen Raums nachzudenken. Da er gerade gebetet und
das, was ihm heilig ist, gespürt hat, möchte er dieses
Aufgehen im Glauben jetzt nicht aufs Spiel setzen. Schließlich
ist er weit von seiner Heimat entfernt und muss vieles
berücksichtigen. Umgeben von seltsamen, merkwürdigen
Vorstellungen, ist er in dieser Wüste der Versuchung fast ein
Verlorener.
Oben gelangt Sadeq zu einer Tür aus verwittertem, von Eisen
eingefasstem Holz. Sie stellt eine kulturelle und architektonische
Absonderlichkeit dar und wirkt hier völlig fehl am Platz. Der
Türgriff besteht aus einer Schlinge aus schwarzem Metall. Sadeq
mustert den Griff, als wäre er ein Natternkopf, der gleich
zuschnappen wird. Dennoch greift er danach, dreht den Griff herum,
tritt über die Schwelle und damit in einen Palast, der nur eine
Ausgeburt der Fantasie sein kann.
Nichts von all dem ist real, ruft er sich ins
Gedächtnis. Es ist ebenso unwirklich wie die
Sinnestäuschungen, die irgendein Dschinn in den Märchen aus
Tausendundeiner Nacht heraufbeschwört.
Trotzdem muss er angesichts der Szenerie lächeln. Allerdings
ist es ein sardonisches Lächeln, Ausdruck eines selbstironischen
Humors, in dem sich auch Frust ausdrückt.
Diejenigen, die Sadeq gefangen genommen haben, haben seine Seele
gestohlen und sie – ihn – in einen überaus seltsamen
Kerker gesperrt: in einen Turm samt Tempel, der sich bis hinauf zum
Paradies erstreckt. Hier hat der ganze Kanon
klassisch-mittelalterlicher Wunschvorstellungen Gestalt gewonnen, ein
Extrakt aus fünfzehnhundert Jahren Literatur: Innenhöfe mit
Säulengängen, von üppigen Mosaiken eingefasste Becken
mit kühlem Wasser, Räume, die mit jedem nur vorstellbaren
Luxus aus unintelligenter Materie ausgestattet sind, endlose
Bankett-Tafeln, die nur darauf warten, dass er Appetit entwickelt
– und Dutzende unwirklich schöner Frauen, die darauf aus
sind, ihm jede erotische Fantasie zu erfüllen. Da auch Sadeq nur
ein Mensch ist, hat er Dutzende solcher Fantasien, doch er wagt es
nicht,
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