Accelerando
Soldatin
durchgehen, allerdings nicht unbedingt als Königin. »Was
geht hier vor? Wo bin ich? Wer bist du, und was mache ich in
deinem Kopf?«
Ihre Augen werden schmal. Der analytische Verstand gewinnt die
Oberhand: Sie beginnt mit einer Bestandsaufnahme ihrer Umgebung.
»Der Router«, murmelt sie. Strukturen aus fremdartiger
Materie, die einen nur wenige Lichtjahre von der Erde entfernten
Braunen Zwerg umkreisen. »Wann sind wir hindurchgekommen?«
Als sie sich umsieht, nimmt sie ein Zimmer wahr, dessen Wände
aus dicht aneinander gefügten Steinplatten bestehen. Eine
Fensternische hat die Form eines Erkers in uralten Kreuzritterburgen,
nur ist hier kein Buntglasfenster, sondern ein leerer weißer
Bildschirm in die Wand eingelassen. Abgesehen von einem Perserteppich
über den kalten Bodenfliesen befindet sich nur ein einzelnes
Möbelstück im Zimmer: das Bett, auf dem sie sitzt. Sie
fühlt sich an eine Szene aus einem alten rätselhaften Film
von Stanley Kubrick erinnert; die ganze Szenerie muss bewusst so
gewählt sein, und das empfindet sie keineswegs als komisch.
»Ich warte«, verkündet sie und lehnt sich gegen die
Kopfstütze des Bettes.
»Gemäß unserer Unterlagen weist diese Reaktion
darauf hin, dass deine Selbstwahrnehmung wieder vollständig
funktioniert. Das ist gut. Du warst sehr lange ohne Bewusstsein. Die
Erklärungen werden komplex und weitschweifig sein, wir
müssen sehr weit ausholen. Kann ich dir eine Erfrischung
anbieten? Was hättest du gerne?«
»Kaffee, falls du welchen da hast. Brot und Hummus –
Kichererbsenpüree. Und etwas zum Anziehen.« Plötzlich
befangen, verschränkt Amber die Arme. »Allerdings
würde ich lieber einen Managementzugang zu diesem Universum
haben. Was die Realität angeht, so mangelt es ihr ein wenig an
menschlichem Komfort.« Was nicht ganz der Wahrheit entspricht:
Es scheint ein menschenfreundliches biophysikalisches Modell zu sein,
das Verständnis verrät, nicht einfach ein improvisierter
subjektiver Schuss ins Blaue. Ihr Blick fällt auf den linken
Vorderarm, auf dem ein Unfall in ihrer Jugendzeit verbrannte Haut und
ein groschengroßes Narbengewebe hinterlassen hat. In der
Umlaufbahn Jupiters war ihr Schutzanzug undicht geworden. Amber
erstarrt einen Augenblick. Lautlos bewegen sich ihre Lippen, doch da
sie in diesem Universum eingesperrt ist, schafft sie es nicht, tief
in ihr verwurzelte Realitäten aufzuspalten oder miteinander zu
verbinden. Sie ist nicht in der Lage, Schablonen aufzurufen, die seit
ihrer Jugend in bestimmten Winkeln ihres Verstandes gespeichert sind.
»Wie lange bin ich tot gewesen?«, fragt sie
schließlich.
»Um Größenordnungen länger als du gelebt
hast«, erwidert das Gespenst. Ein Tablett, das mit Pita, Hummus
und Oliven beladen ist, nimmt in der Luft über ihrem Bett
Gestalt an, und auf einer Zimmerseite taucht ein Kleiderschrank auf.
»Mit den Erklärungen kann ich entweder sofort beginnen oder
warten, bis du gegessen hast. Was ist dir lieber?«
Amber sieht sich erneut um und konzentriert sich schließlich
auf den weißen Bildschirm im Erker. »Sag’s mir
sofort, ich kann’s verkraften«, erwidert sie mit innerer
Bitterkeit. »Ich möchte so schnell wie möglich
begreifen, was ich falsch gemacht habe.«
»Wir/unsere Gemeinschaft können sehen, dass du ein
Mensch von Entschlusskraft bist«, sagt das Gespenst, und jetzt
schwingt eine Spur Stolz in seiner Stimme mit. »Das ist auch gut
so, Amber, denn du wirst deine ganze Entschlossenheit brauchen, wenn
du hier überleben willst…«
Im Tempel neben einem Turm, der hoch über einer ausgedorrten
Ebene aufragt, ist die Zeit zur Buße gekommen. Die Gedanken des
Geistlichen, der in dem Turm wohnt, sind voller Reue. Es ist Aschura,
der zehnte Tag des islamischen Monats Muharran, wie die Echtzeit-Uhr
besagt, die immer noch auf die Zeitrechnung einer anderen Epoche
eingestellt ist. Es ist der 1340. Jahrestag des Martyriums,
bei dem der dritte Imam, Sayyid asch-Schuhada, den Tod fand.
Versunken in Meditation und Rezitation, hat der Geistliche so
viele Stunden im Gebet verbracht, dass er jedes Zeitgefühl
verloren hat. Als die riesige rote Sonne jetzt bis zum Horizont der
unendlich weiten Wüste zieht, wenden sich seine Gedanken der
Gegenwart zu. Aschura ist ein ganz besonderer Tag, ein Tag der
Sühne kollektiver Schuld und der Buße für
Sünden, die durch Versäumnisse begangen wurden. Doch es
liegt in Sadeqs Natur, den Blick nach außen zu wenden, auf die
Zukunft. Auch das
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