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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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sich selbst die Erfüllung dieser Wünsche
zuzugestehen und der Versuchung nachzugeben.
    Ich bin nicht tot, sinniert er. Wie kann ich dann im
Paradies sein? Also muss das hier ein falsches Paradies sein, eine
Versuchung, die man mir geschickt hat, um mich vom rechten Weg
abzubringen. Ja, so ist es vermutlich. Es sei denn, ich bin
tatsächlich tot, weil Allah, Friede sei mit ihm, die von ihrem
Körper losgelöste Seele eines lebenden Menschen als tot
betrachtet. Doch wenn das zutrifft, ist dann das Uploading nicht
zwangsläufig eine Sünde? In diesem Fall kann das hier nicht
das Paradies sein, denn durch das Uploading bin ich ja ein
Sünder. Mal abgesehen davon, dass diese ganze Szenerie
überaus kindisch wirkt!
    Von jeher neigt Sadeq zu philosophischen Untersuchungen, und seine
Vision eines Lebens nach dem Tode ist kopflastiger als bei den
meisten anderen. Sie umfasst Vorstellungen, die innerhalb des Islam
als ebenso fragwürdig gelten wie die von Teilhard de Chardin
innerhalb der katholischen Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn
es in Sadeqs Endzeitvorstellung einen wesentlichen Indikator
dafür gibt, dass es sich hier um ein falsches Paradies handelt,
so sind es die zweiundsiebzig hirnlosen, aber schönen Houris,
die nur darauf warten, ihm zu Willen zu sein. Folglich kann er
eigentlich nicht tot sein…
    Die ganze Frage der Realität ist so verwirrend, dass Sadeq
das tut, was er jeden Abend tut: Mit großen Schritten stapft er
achtlos über unschätzbar kostbare Kunstwerke hinweg,
durchquert hastig Innenhöfe und Passagen, ignoriert die Nischen,
in denen nahezu unbekleidete Supermodels mit gespreizten Beinen
liegen, und steigt weitere Treppenstufen hinauf – bis er zu
einem kleinen unmöblierten Zimmer gelangt, das nur ein einziges
großes Fenster hat. Dort nimmt er im Schneidersitz auf dem
Fußboden Platz, um zu meditieren. Er vertieft sich nicht ins
Gebet, sondern in weitaus konzentriertere logische Überlegungen.
In jeder künstlichen Nacht (man kann unmöglich feststellen,
wie schnell die Zeit außerhalb dieser Enklave im Cyberspace
vergeht) sitzt Sadeq da, denkt nach und schlägt sich in
der Einsamkeit seines Kopfes mit Descartes’ Dämon herum.
Und Abend für Abend stellt er sich dieselbe Frage: Wie kann
ich feststellen, ob das hier in Wirklichkeit die Hölle ist? Und
falls es nicht die wahre Hölle ist, wie kann ich dann von hier
fliehen?
     

     
    Das Gespenst teilt Amber mit, dass sie ein knappes Drittel von
einer Million Jahren tot gewesen ist. In der Zwischenzeit hat man
ihre gespeicherte Kopie viele Male zu neuem Leben erweckt, doch sie
ist jedes Mal wieder gestorben, aber daran erinnert sie sich nicht.
Sie ist ein vom Hauptstamm abgespaltener Ast, und die anderen Zweige
haben ihr Leben in Einsamkeit und Abgeschiedenheit ausgehaucht.
    An und für sich beunruhigt diese Sache mit der
Wiederauferstehung Amber nicht über Gebühr,
schließlich ist sie in der Post-Moravec-Epoche geboren. Nur
empfindet sie manche Aspekte im Bericht des Gespenstes als
unbefriedigend, da bestimmte Dinge fehlen. So als erzähle man
ihr, sie sei mit Drogen voll gepumpt gewesen und man habe sie hierher
gebracht, ohne zu erwähnen, ob per Flugzeug, Zug oder Auto.
    Ohne Probleme schluckt sie die Behauptung des Gespenstes, ihr
jetziger Aufenthaltsort sei sehr weit – etwa achtzigtausend
Lichtjahre – von der Erde entfernt. Als sie und die anderen sich
mittels des Routers – den sie im Orbit um Hyundai +4904 / -56 gefunden hatten – ins unbekannte
Netzwerk begaben, war ihnen das damit verbundene Risiko klar: Sie
konnten überall oder nirgends landen. Doch die Vorstellung, sich
immer noch innerhalb des Lichtkegels des Startpunktes zu befinden,
erscheint ihr nicht plausibel. Die ursprüngliche
Übermittlung an SETI hat deutlich darauf hingewiesen, dass der
Router Teil eines Netzwerks von selbstreplizierenden
quantenverschränkten Kommunikatoren ist, das sich zwischen den
erkalteten Braunen Zwergen der Galaxie ausdehnt und verbreitet.
Irgendwie ist sie davon ausgegangen, mittlerweile viel weiter vom
Ausgangspunkt der Reise entfernt zu sein.
    Doch andere Dinge geben ihr in gewisser Hinsicht noch mehr zu
denken. Das Gespenst behauptet, mindestens zweimal habe sich der
menschliche Genotyp selbst ausgelöscht, Ambers Heimatplanet sei
hier unbekannt und Amber selbst fast die Letzte ihrer Art – der
einzige Mensch, der in den öffentlich zugänglichen Archiven
noch gespeichert ist. An diesem Punkt fährt sie dazwischen.
»Ich sehe

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