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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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isoliert da, ein einsamer Hort
klassischer Gelehrsamkeit im Exil, weit entfernt vom schnell
denkenden Zentrum des Sonnensystems.
    »Geldverschwendung«, knurrt die schwarz gekleidete Frau.
»Wessen blöde Idee war das überhaupt?« Mit dem
diamantbesetzten Knauf ihres Spazierstocks deutet sie auf das
Museum.
    »Der Bau ist ein Statement«, erwiderte Sirhan
gedankenverloren.
    »Du kennst das doch. Seine Präsenz bedeutet: Wir
verfügen über so viele Newton-Einheiten, die wir verprassen
können, dass wir unsere Kulturdenkmäler nach Lust und Laune
überallhin befördern. Hast du schon gehört, dass
der Louvre zu Pluto unterwegs ist?«
    »Energieverschwendung.« Zögernd senkt sie den
Spazierstock wieder, stützt sich darauf und zieht eine Grimasse.
»Das ist einfach nicht richtig.«
    »Du bist doch während der zweiten Ölkrise
aufgewachsen, nicht wahr?«, fragt Sirhan provozierend. »Wie
war’s denn damals?«
    »Wie es damals war? Oh, eine Gallone Sprit, rund 4,5 Liter,
kostete damals bis zu fünfzig Dollar, aber wir hatten immer noch
jede Menge für Bomber übrig«, wehrt sie ab. »Wir
wussten, es würde sich irgendwann schon wieder normalisieren.
Wären da nur nicht diese verdammt penetranten Posthumanisten
gewesen…« Ihr runzliges, unnatürlich altes Gesicht
sieht ihn finster und aufgebracht an. Ihr Kopfhaar ist so
ausgeblichen, dass es den Farbton verfaulenden Strohs angenommen hat.
Dennoch spürt er bei ihr einen Unterton selbstkritischer Ironie,
den er nicht zu deuten weiß. »Genau wie dein
Großvater, dieser verfluchte Kerl. Wäre ich noch mal jung,
würde ich hergehen und auf sein Grab pinkeln, um ihm zu zeigen,
was ich von seinem Tun halte. Falls er überhaupt ein Grab hat«, fügt sie fast liebevoll hinzu.
    Memo-Checkpoint: Schreib die Familiengeschichte mit, befiehlt Sirhan einem seiner Agenten. Als engagierter Historiker
zeichnet er jedes Erlebnis routinemäßig auf, ehe es in
seinen Bewusstseinsstrom eingeht – efferente, von einem Organ
ausgehende Signale lassen sich am saubersten abspeichern – und
Teil seines Selbst wird. Das ist seine Absicherung, sollte seine
Erinnerung irgendwann Lücken aufweisen oder ganz ausfallen.
    Doch seine Großmutter hat sich über die letzten
Jahrzehnte hinweg bemerkenswert hartnäckig geweigert, sich den
neuen Gegebenheiten anzupassen. »Du zeichnest das hier auf,
nicht wahr?«, fragt sie und schnaubt abfällig.
    »Ich zeichne es nicht auf, Großmama«, erwidert er
vorsichtig. »Ich halte lediglich meine persönlichen
Erinnerungen für die Nachwelt fest.«
    »Ha! Das werden wir ja sehen«, sagt sie
argwöhnisch. Gleich darauf verblüfft sie ihn mit heiserem
Gelächter, das gleich wieder abflaut. »Nein, du wirst es sehen, Liebling. Ich werde ja gar nicht mehr da sein,
mich kannst du in dieser Hinsicht also auch nicht
enttäuschen.«
    »Erzählst du mir irgendwann von meinem
Großvater?«
    »Warum sollte ich mir die Mühe machen? Ich kenne euch
Posthumane doch: Ihr werdet einfach hergehen und seinen Geist selbst
befragen. Versuch nur nicht, das abzustreiten! Jede Geschichte hat
zwei Seiten, Kind, und er hat einen mehr als fairen Anteil an
geneigten Ohren gehabt, dieser Gauner. Hat’s mir
überlassen, deine Mutter ohne Hilfe großzuziehen, hat
nichts dazu beigesteuert als jede Menge wertloses geistiges Eigentum
und ein Dutzend Klagen der Mafia. Ich weiß gar nicht, was ich
je in ihm gesehen habe.«
    Sirhans Stimmstress-Monitor entdeckt einen eindeutigen Hinweis
darauf, dass die letzte Behauptung keineswegs der Wahrheit
entspricht. »Er ist ein Taugenichts, vergiss das bloß nie.
Der faule Idiot hat’s nicht mal fertig gebracht, ein einziges
eigenes Start-up-Unternehmen auf die Beine zu stellen. Musste alles
herschenken, all die Früchte seines Genies.«
    Während Sirhans Großmutter weiter vor sich hin schimpft
und ihre Aussagen über Manfreds Charakter gelegentlich dadurch
unterstreicht, dass sie ihren Spazierstock heftig in den Boden rammt,
bewegt sie sich mit langsamen, unsicheren Schritten vorwärts.
Auf ihrem gemächlichen Spaziergang gelangen Großmutter und
Enkel schließlich zum Museum, wo sie um eine Ecke biegen und
neben einer nüchtern konstruierten, uralten Laderampe stehen
bleiben. »Stattdessen hätte er’s mal mit realem Kommunismus versuchen sollen«, schnaubt sie missbilligend.
»Das hätte ihm ein bisschen Mumm in die Knochen gegeben und
diese blauäugigen Visionen und Tagträume vom
Positiv-Summen-Spiel ausgetrieben. In den alten Zeiten wusste

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