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Accelerando

Accelerando

Titel: Accelerando Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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dafür ein, dass jeder
Bürger alle sechs Monate mit einem kompletten Satz neuer
Gesichtsmuskeln ausgestattet wird. Die Wilden Schlingel fordern gleiche Rechte für die Wesenheiten, die nicht mit
einem eigenen Bewusstsein begabt sind. Und zahlreiche
Interessengruppen, die nur ein einziges, zum Scheitern verurteiltes
Ziel verfolgen, lamentieren wie üblich herum.
    Wie diese Wahl eigentlich funktionieren soll, bleibt ein
düsteres Geheimnis – zumindest für diejenigen, die
nicht in die Machenschaften des Festivalkomitees eingeweiht sind,
jener Gruppe also, die als Erste die Idee hatte, die Saturn-Region
mit Heißwasserstoffballons zu bestücken. Doch im Laufe
eines ganzen Tages, innerhalb von fast vierzigtausend Sekunden,
schält sich schließlich ein Muster heraus. Der erste
Schritt dieser Wahl besteht darin, dass die Abstimmungstendenzen, die
sich in den Kommunikationsnetzen abzeichnen, systematisch erfasst
werden. Diese Kommunikationsnetze verwenden sehr viel Zeit darauf, im
ganzen Gemeinwesen des Planeten das Reputations-Ranking zu verfolgen
– das kann bis zu fünfzig Millionen Sekunden dauern, was
einem ganzen Marsjahr entspricht (würde der Mars noch
existieren). Danach wird ein Parlament entstehen, genauer gesagt ein
zu einem kollektiven Verstand verschmolzener Borganismus, der sich
auf die Überzeugungen der Wahlsieger stützt und als
Superverstand mit einer einzigen Stimme spricht.
    Allerdings sind die eintreffenden Nachrichten nicht gerade
großartig, wie die in der oberen Kugel des Atomiums
Versammelten mit der Zeit feststellen. (Manfred hat darauf bestanden,
dass Amber die Räumlichkeiten für die Dead-Dog-Party nach
der Wahl anmietet.) Amber ist nicht anwesend. Vermutlich
ertränkt sie ihren Kummer irgendwo oder schmiedet neue
Pläne für die Zeit nach der Wahl, aber andere
Angehörige ihres Wahlkampfteams nehmen teil.
    »Könnte schlimmer sein«, erklärt Rita am
späten Abend nüchtern. Sie hat sich in eine Ecke der
siebten Etage zurückgezogen und auf einem Drahtsessel aus den
1950er Jahren Platz genommen, hält ein Glas mit künstlich
erzeugtem Single Malt in den Händen und beobachtet die Schatten.
»Bei einem Wahlkampf alten Stils würde man uns jetzt aus
allen möglichen Richtungen mit Dreck bewerfen; so können
wir wenigstens einigermaßen anonym bleiben.«
    Einer der blinden Flecken am Rande ihres Blickfelds löst
sich, kommt näher und entpuppt sich als Sirhan, der vor ihr
feste Gestalt annimmt. Er wirkt verdrossen.
    »Was ist mit dir los?«, fragt sie. »Nach den
Auszählungsergebnissen hat deine ehemalige Fraktion doch
gewonnen.«
    »Mag sein.« Er setzt sich neben sie, weicht ihrem Blick
aber bemüht aus. »Vielleicht ist das gut, vielleicht auch
nicht.«
    »Wann also wirst du dich dem Synzytium
anschließen?«
    »Ich? Dem Synzytium anschließen?« Er wirkt
schockiert. »Glaubst du wirklich, ich wollte Teil eines
parlamentarischen Borgs werden? Wofür hältst du
mich?«
    »Oh.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich dachte, du
weichst mir deswegen aus, weil…«
    »Nein.« Als er die Hand ausstreckt, reicht ihm eine
vorbeikommende Bedienung ein Glas. Er holt tief Luft. »Ich muss
mich bei dir entschuldigen.«
    Hat lange genug gedauert, denkt sie ohne jede Nachsicht.
Aber so ist er nun mal. Halsstarrig und stolz. Er tut sich schwer
damit, einen Fehler einzugestehen, und entschuldigt sich
wahrscheinlich nur dann, wenn es ihm wirklich ernst damit ist.
»Wofür?«
    »Dass ich dich einfach verurteilt habe, ohne mich näher
mit der Sache zu befassen«, sagt er langsam und dreht das Glas
zwischen den Handflächen hin und her. »Ich hätte eher
auf mein Selbst hören sollen, anstatt es auszusperren.«
    Für Rita ist klar, von welchem Selbst er spricht. »Du
bist ein Mann, an den man nicht leicht herankommen kann«, sagt
sie leise. »Vielleicht ist das ein Teil deines
Problems.«
    »Teil davon?« Er lacht bitter. »Meine
Mutter…« Er verkneift sich auszusprechen, was er
ursprünglich hatte sagen wollen. »Weißt du, dass ich
älter bin als sie? Als diese Version von ihr, meine ich. Sie
nervt mich mit dem, was sie mir unterstellt…«
    »Wie sie dir, so du ihr.« Rita greift nach seiner Hand,
was er ohne zu zögern erwidert, diesmal weist er sie nicht
zurück. »Hör mal, es sieht nicht so aus, als ob sie es
in diese Schmierenkomödie von Parlament schafft. Eine deutliche
Mehrheit hat für die Konservativen gestimmt, man hat uns eine
gründliche Absage erteilt. Rund achtzig Prozent der
Bevölkerung sind

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