Accelerando

bis zur nächsten alles vergessen. Und
das geht so lange, bis sie irgendwann verlangen, wiederbelebt zu
werden, weil sie mittlerweile die Kriterien für die
körperliche Wiederherstellung erfüllen. Manfred ist schon
seit langem tot, so lange, dass Sirhan und Rita in der Zwischenzeit
bereits drei, viermal wiederbelebt wurden und ein langes
Familienleben genießen konnten, nachdem auch sie rund hundert
Jahre in der Nichtexistenz verbracht hatten. »Wir haben keine
Nachrichten von den Hummern erhalten und auch nichts von Aineko
gehört.« Er holt tief Luft. »Du fragst mich immer, wo
wir inzwischen stehen, deshalb habe ich eine Antwort für dich
aufgezeichnet.« Einer von Sirhans Agenten wirft das Paket, es
hat die Form einer Schriftrolle, die mit rotem Wachs und einer
seidenen Schleife versiegelt ist, durch den Spiegel. (Nach der
zehnten Wiederholung haben sich Rita und Sirhan darauf geeinigt, die
wichtigsten Informationen jeweils so zusammenzufassen, dass die
Geister von Manfred sie zur Orientierung nutzen können.)
    Manfred schweigt einen Moment – was im Raum der Geister
wahrscheinlich Stunden entspricht –, während er sich die
neuen Informationen zu Gemüte führt. »Kann das
sein?«, fragt er danach. »Hab ich eine ganze Zivilisation verschlafen?«
    »Nicht verschlafen, du warst tot«, korrigiert ihn Sirhan
pedantisch, merkt aber gleich darauf, dass er ein bisschen unwirsch
gewesen ist. »Eigentlich ist es uns nicht anders ergangen«,
fügt er hinzu. »Am Anfang haben wir rund drei Gigasekunden
herumgesurft, weil wir für die Familiengründung einen Ort
gesucht haben, wo unsere Kinder auf herkömmliche Weise
aufwachsen können. Aber nach Beginn des Exils hat es noch einige
Zeit gedauert, bis endlich Habitate mit einer thermodynamischen
Umgebung von 273,16 Kelvin und intensiver Oxidation geschaffen
wurden. Vorher hatte sich diese Mode des Neo-Morphismus
eingebürgert«, fügt er voller Abscheu hinzu. Die Neos
hatten sich ziemlich lange dagegen gesträubt, irgendwelche
Mittel für die Konstruktion rotierender Zylinderhabitate
aufzuwenden; aber solche Zylinder waren die Voraussetzung dafür,
angemessene Schwerkraft für Geschöpfe mit Wirbelsäulen
sowie eine sauerstoffreiche, atembare Atmosphäre zu erzeugen. Es
hatte ein ziemlich heftiges politisches Gerangel gegeben. Doch
aufgrund wachsenden Wohlstands durften die Orthodoxen nach
Jahrzehnten des Todesschlafs schließlich wiederauferstehen. Zu
diesem Zeitpunkt waren die grundsätzlichen Probleme der
Ansiedlung in den eiskalten Umlaufbahnen metallarmer Brauner Zwerge
bereits gelöst.
    »Ah.« Manfred holt tief Luft, stülpt die
gummiartigen Lippen vor und kratzt sich in der Achsel. »Also,
lass mich rekapitulieren: Wir – ihr, sie, wer auch immer –
sind bei Hyundai +4904 / -56 auf den Router
gestoßen, haben jede Menge Router repliziert und nutzen jetzt
den Wurmloch-Mechanismus, auf den sich die Router stützen, um
physisch von einem Ort zum anderen zu gelangen? Und haben uns in
zahlreichen Zwerg-Systemen weiterverbreitet? Und ein Gemeinwesen im
tiefen Raum geschaffen, das auf großen Zylinderhabitaten
basiert? Und diese Habitate sind durch Teleportationstore miteinander
verbunden, die man den Routern abgezwackt hat?«
    »Würdest du unsere Datenübermittlungen dem
Schaltkreis eines ursprünglichen Routers anvertrauen?«,
lautet Sirhans rhetorische Frage. »Selbst wenn du Zugang zum
Quellcode hättest? All diese Kontakte mit toten, von Aliens
geschaffenen Matroschka-Zivilisationen haben die Router verseucht.
Aber sie sind einigermaßen sicher, sofern man nur vorhat, sie
auszuschlachten und ihre Wurmlöcher und unintelligente
Tunnelmasse für die Verbindung zwischen zwei Punkten zu
nutzen.« Er sucht nach einem Vergleich. »So als ob man
dein, äh, Internet zum Emulieren des Postdienstes des
neunzehnten Jahrhunderts nutzen würde.«
    »O-kay.« Wie an diesem Punkt des Gesprächs
üblich, wirkt Manfred nachdenklich. Und das bedeutet, dass
Sirhan ihm schonend beibringen muss, wie weit gehend seine ersten
Ideen zur Nutzung der Tore bereits in die Tat umgesetzt sind.
Manfreds Ideen sind hoffnungslos überholt. Eigentlich ist das
sogar der Hauptgrund dafür, dass er immer noch tot ist:
Mittlerweile sind die Dinge so weit gediehen, dass Manfred jedes Mal,
wenn er zu einem Schwätzchen auftaucht, früher oder
später frustriert ist und es vorzieht, nicht reinkarniert zu
werden. Nicht dass Sirhan vorhätte, ihm zu sagen, er sei
überflüssig – das wäre unhöflich,