Accelerando
ganz zu
schweigen davon, dass es auch nicht ganz stimmt. »Das wirft
einige interessante Möglichkeiten auf. Ich frage mich, ob jemand
schon…«
»Sirhan, ich brauche dich!«
Ritas glasklare, eisige Stimme, die Bestürzung und Angst
verrät, durchdringt Sirhans Wahrnehmung wie ein Skalpell und
lenkt ihn vom Geist seines Vorfahren ab. Während er blinzelt,
richtet er die Aufmerksamkeit unverzüglich auf Rita, ohne
Manfred auch nur einen persönlichen Agenten dazulassen.
»Was ist los?«
Durch Ritas Augen sieht er eine Katze mit einem orange-braunen
Wirbel an der Flanke, die im Wohnzimmer ihres Quartiers schnurrend
neben Manni sitzt. Sie hat die Augen zusammengekniffenen und
beobachtet Rita mit unnatürlicher Intelligenz. Manni fährt
ihr mit den Fingern durch das Fell und scheint keine Angst vor ihr zu
haben. Dennoch spürt Sirhan, wie sich seine Hände zu
Fäusten ballen.
»Was…«
»Entschuldige mich«, sagt er und steht auf. »Ich
muss los. Deine verdammte Katze ist hier aufgetaucht.« An Rita
gewandt, fügt er hinzu: »Ich komm sofort nach
Hause.« Gleich darauf dreht er sich um und eilt aus dem
Tempelhof. Als er die Eingangshalle erreicht, zögert er kurz,
besinnt sich aber darauf, wie dringend Ritas Hilferuf geklungen hat,
und schreibt die Sparsamkeit in den Wind. Um so schnell wie
möglich nach Hause zu kommen, nimmt er ein Teleportationstor,
das Vorzugsbehandlung garantiert.
Zurück bleibt Manfreds melancholischer Geist. Leicht
beleidigt, rümpft er die Nase und denkt über eine
existenzielle Wahlmöglichkeit nach: Sein oder Nichtsein, das
ist hier die Frage. Gleich darauf trifft er eine
Entscheidung.
Willkommen im dreiundzwanzigsten Jahrhundert. Oder im
vierundzwanzigsten. Vielleicht ist es aber auch das
zweiundzwanzigste Jahrhundert, das nach dem Überfliegen
mehrerer Zeitzonen lediglich unter Jetlag-Beschwerden leidet und
aufgrund der künstlich verzögerten Animation und der
relativistischen Reise noch benommen ist. In diesen Tagen spielt
das kaum eine Rolle. Was von der Menschheit, sofern als solche
noch kenntlich, verblieben ist, hat sich über hundert
Lichtjahre verteilt, lebt auf ausgehöhlten Asteroiden und
rotierenden Zylinderhabitaten, die im interstellaren Vakuum in der
Umlaufbahn erkalteter Brauner Zwerge und sonnenloser Planeten
treiben. Mittlerweile sind die Mechanismen der erbeuteten, von
Aliens geschaffenen Router ausgeschlachtet und so vereinfacht,
dass selbst die nur leicht weiterentwickelten Superhumanen sie
annähernd begreifen können. Man hat sie in Generatoren
für miteinander gekoppelte Endpunkte von Wurmlöchern
verwandelt, die den unverzüglichen Austausch und die
Beförderung über riesige Entfernungen hinweg
gewährleisten. Andere Mechanismen, die Nachfolger der
fortgeschrittenen Nanotechnologie, die sich aufgrund der
Blüte menschlicher Technognosis im einundzwanzigsten
Jahrhundert entwickelte, haben die Replikation unintelligenter
Materie zu einer alltäglichen Angelegenheit gemacht. Diese
Gesellschaft ist an Knappheit der Mittel nicht mehr gewöhnt.
Aber in mancher Hinsicht sind New Japan und das Unsichtbare
Imperium sowie die anderen Gemeinwesen in dem von Menschen
besiedelten Raum armseliges Hinterland. Sie partizipieren nicht an
den Wirtschaftssystemen höherer Ordnung, die die Posthumanen
geschaffen haben. Es fällt ihnen schwer, die Dauerberieselung
durch den missratenen Nachwuchs auch nur zu begreifen.
Deren Masse/Energie-Haushalt stellt denjenigen der fünfzig
von Menschen besiedelten Systeme rund um die Braunen Zwerge weit
in den Schatten. Das rührt daher, dass sie die ungebundene
Materie des Raums, den die Menschen ursprünglich als ihr
Sonnensystem ansahen, völlig neu strukturiert und in
Computronium umgewandelt haben.
Nach wie vor wissen die Hinterwäldler beängstigend
wenig über die lange Geschichte der Intelligenz in diesem
Universum, über die Ursprünge des Router-Netzwerks (das
so viele, inzwischen abgestorbene Zivilisationen durchdrungen und
ihnen Tod und Zerfall beschert hat) oder die hektische
Beschleunigung und Verbreitung der Datenverarbeitung, die in der
Ferne ganze Galaxien erfasst hat – obwohl die Distanzen
aufgrund der Rotverschiebung messbar wären. Sie kennen sich
nicht einmal mit den ungebundenen Posthumanen aus, die in mancher
Hinsicht mitten unter ihnen weilen, schließlich haben sie
sich im selben Lichtkegel gesammelt wie diese lebenden Fossilien,
die Überbleibsel einer
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