Accelerando
ein
Protohominider in den Tagen Wernher von Brauns zum Raketenforscher
bringen konnte. Sie sind dazu verdammt, als Primitive zu leben, die
sich fröhlich im Schlamm ihrer begrenzten kognitiven Bandbreite
suhlen. Also sind sie in die Dunkelheit geflohen und haben eine
Zivilisation geschaffen, die so gescheit ist, dass sie alle
Errungenschaften der Erde, soweit es die Zeit vor der
Singularität betrifft, in den Schatten stellt. Und dennoch ist
es nur ein von geistig Behinderten besiedelter Slum.
Das Missverhältnis belustigt ihn, allerdings nur kurz.
Schließlich hat er sich freiwillig und aus einem bestimmten
Grund reinkarnieren lassen: Sirhans beiläufige Bemerkung
über die Katze hat seine Aufmerksamkeit erregt. »Stadt, wo
kann ich ein paar Klamotten herbekommen?«, fragt er.
»Genauer gesagt: etwas, das gesellschaftlich angemessen ist. Und
ein bisschen, äh, Gehirn. Ich brauche irgendetwas, auf das ich
Dinge herunterladen kann…«
Als der Geist der Stadt in seinem Hinterkopf kichert, merkt
Manfred, dass es auf der anderen Seite der Schmuckmauer, an der er
lehnt, einen öffentlich zugänglichen Assembler gibt.
»Oh«, murmelt er, während er sich darunter
zwangsläufig etwas vorstellt, das seinem plumpen alten
neuronalen Interface mitsamt Direktverbindung, bonbonfarbenen Icons
und Overlays nicht unähnlich ist. Allerdings ist seltsam, dass
sich diese Vorstellung ständig wandelt. Begleitet von dem
verrückten Gefühl der Orientierungslosigkeit, wird ihm
bewusst, dass dieses Ding keineswegs seiner Fantasie entsprungen ist,
sondern ein Interface zu den in diesem Gemeinwesen überall
präsenten Informationsräumen darstellt, das sich unbegrenzt
Kundenwünschen anpassen kann. Gegenwärtig ist es ihm
zuliebe auf einen gewollt primitiven, simplen Modus eingestellt. Er
braucht tatsächlich Einweisungshilfe. Dennoch dauert es nicht
lange, bis er herausgefunden hat, wie er den Assembler dazu bringen
kann, eine Hose und eine schlichte schwarze Weste zu produzieren. Und
er merkt auch schnell, dass er nichts zahlen muss, solange seine
Forderungen bescheiden bleiben – das ist hier nicht anders als
damals zu Hause, auf dem Saturn. Die in dieser Raumregion
entstandenen Gemeinwesen behandeln mittellose Leute freundlich, denn
es kostet nicht viel, sie mit dem Nötigsten zu versorgen, und
den Armen diese Unterstützung zu verweigern, käme einem
Mord gleich. (Zwar hat die Präsenz von Transhumanen eine Unmenge
früherer Selbstverständlichkeiten außer Kraft
gesetzt, doch zumindest hat sie die Goldene Regel kaum
angetastet.)
Angezogen und mehr oder weniger bei klarem Kopf – soweit
Menschen einen klaren Kopf haben können –, nimmt Manfred
eine Bestandsaufnahme vor. »Wo wohnen Sirhan und Rita?«,
fragt er. Eine gepunktete Linie taucht vor ihm auf, die sich auf
unglaubliche Weise durch eine massive Mauer schlängelt. Nach
dem, wie er es begreift, handelt es sich um ein Wurmloch-Tor, das
Lichtjahre voneinander entfernte Punkte unverzüglich miteinander
verbindet. Verwirrt schüttelt er den Kopf. Ist wohl am
besten, wenn ich sie aufsuche. Es gibt ja auch niemand anderen,
nach dem er sich erkundigen könnte, oder? Die Franklins sind ins
solare Matroschka-Gehirn entschwunden, Pamela ist schon ewig lange
tot (niemals hätte er damit gerechnet, dass sie ihm fehlen
könnte, wie er sich zu seiner Schande eingestehen muss), und
Annette hat sich mit Gianni zusammengetan, während er als
Taubenschar unterwegs war. (Am besten, er zieht einen Schlussstrich
unter diese Sache und gesteht sich ein, dass es aus und vorbei ist.)
Seine Tochter ist wegen des Forschungsprogramms in weite Fernen
abgetaucht. Er ist so lange tot gewesen, dass seine Freunde und
Bekannten quer über einen Jahrhunderte umfassenden Lichtkegel
verstreut sind. Ihm fällt niemand anderer ein, auf den er hier
stoßen könnte. Bleibt nur sein loyaler Enkel, der die
Flamme kindlicher Pietät mit einer Hingabe hochhält, wie
Manfred sie nie von ihm verlangt hätte. »Vielleicht braucht
er Hilfe«, denkt er laut, um die Wiedergeburt vor sich selbst zu
rechtfertigen, und betritt das Teleportationstor.
»Außerdem kann er vielleicht auch mir dabei
helfen herauszufinden, was ich tun soll.«
Als Sirhan nach Hause kommt, rechnet er mit Problemen. Womit er
auch Recht hat, nur sind sie völlig anderer Natur als erwartet.
Seine Wohnung ist auf viele Orte und Ebenen verteilt; die durch
Teleportationstore miteinander verbundenen Räume befinden sich
in verschiedenen Habitaten.
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