Accelerando

wollen?«
     

     
Willkommen im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten
Jahrhunderts. Es ist die zweite Dekade in der
Menschheitsgeschichte, in der die uns umgebende Intelligenz hat
erkennen lassen, dass sie bald schon menschlichen Standards
genügen wird.
    Die Nachrichten aus aller Welt sind an diesem Abend
ausgesprochen deprimierend. In Maine haben Guerillas im Umfeld der
»Parents for Traditional Children« bekannt gegeben, dass
sie in Kliniken für pränatale Vorsorge logische
Sprengsätze in Gen-Scanner eingeschmuggelt haben. Nach dem
Zufallsprinzip tauchen inzwischen falsche positive Befunde auf,
wenn nach erblichen Anomalien gesucht wird. Die katastrophalen
Folgen der Guerilla-Aktion: bislang sechs illegale Abtreibungen
und Rechtsstreit in vierzehn Fällen.
    Der Internationale Kongress für Aufführungsrechte ist
mittlerweile in die dritte Krisenrunde eingestiegen, um das
endgültige Ende von Lizenzvergaben doch noch abzuwenden.
Bislang war im Bereich Musik WIPO dafür zuständig.
    Einerseits drängen Hardliner, die die Copyright Control
Association of America (CCAA) vertreten, auf einschränkende
Bestimmungen für das Kopieren bestimmter medialer Ereignisse.
Insbesondere wehren sie sich dagegen, dass der emotionale Gehalt
dabei durch eigenmächtige Eingriffe verändert oder
verstümmelt wird. Um ihren Forderungen Nachdruck zu
verleihen, haben sie dafür gesorgt, dass zwei selbst
ernannten »Software-Ingenieuren« in Kalifornien die
Kniescheiben zertrümmert wurden. Anschließend wurden
beide geteert und gefedert und ihrem Schicksal überlassen. Am
Tatort waren Transparente angebracht, auf denen die beiden
Männer beschuldigt wurden, die Handlung von Filmen durch
Einsatz von Avataren ins Gegenteil verkehrt zu haben. Angeblich
wurden Avatare von Schauspielern eingesetzt, die tot oder nicht
mehr durch Copyrights geschützt sind.
    Andererseits fordert die Gegenseite, die Vereinigung Freier
Künstler, das Recht auf öffentliche Konzerte und die
Abschaffung des Zwangs, dafür Verträge mit Tonstudios
abschließen zu müssen. Sie beschuldigt die CCAA, als
Werkzeug von Mafia-Apparatschiks zu agieren. Die Mafia habe der
dahinsiechenden Musikindustrie die CCAA als Geldwaschanlage
abgekauft. Leonid Kuibyshev, Leiter des FBI, hat in einer
Stellungnahme jede Bedeutung der Mafia in den USA bestritten. Die
Position der Musikindustrie wird auch dadurch geschwächt,
dass die gesetzlich anerkannte und registrierte amerikanische
Unterhaltungsindustrie kurz vor dem Aus steht. Seit den schlimmen
Nullerjahren, den Anfangsjahren des neuen Jahrtausends, steuert
sie immer schneller auf den völligen Zusammenbruch zu.
    Ein mit gewisser Intelligenz begabter Voicemail-Virus, der sich
als Steuerprüfer tarnt, hat überall in Amerika für
Chaos gesorgt. Nach gegenwärtigen Schätzungen sind rund
achtzig Milliarden eingetriebener Steueraußenstände auf
einem Schweizer Nummernkonto gelandet.
    Ein anderer Virus ist derzeit eifrig dabei, Bankkonten
abzuräumen. Zunächst übermittelt er zehn Prozent
des jeweiligen Bankguthabens an das vorhergehende Opfer, danach
verbreitet er sich über E-Mail an jeden, der im Adressbuch
des aktuellen Opfers registriert ist – hier kann man ein
autarkes Pyramiden-Schema in voller Aktion erleben. Seltsam ist
allerdings, dass sich kaum jemand darüber beschwert hat.
Während der Schaden noch untersucht wird, haben die
IT-Abteilungen von Unternehmen derzeit alle Überweisungen auf
Eis gelegt. Sie weigern sich, irgendeine Transaktion vorzunehmen,
sofern die Daten nicht in Form von Tinte auf den verwerteten
Resten toter Bäume erfasst sind.
    Börseninsider warnen vor einer bevorstehenden Baisse auf
dem inflationären Reputationsmarkt, der die
Kreditwürdigkeit in schwindelnde Höhen getrieben hat.
Die Baisse hängt angeblich mit Enthüllungen darüber
zusammen, dass einige Gurus aus der Branche der Ultramedien auf
Rangplätze jenseits jeder Glaubwürdigkeit hochgejubelt
wurden. Daraus erwächst dem prekären Anleihemarkt, der
sich ausschließlich auf Integrität und
Kreditwürdigkeit verlässt, ein immenser Schaden.
    Der EU-Rat unabhängiger Staatshäupter hat alle
Pläne zu einem weiteren Vorstoß in Sachen
Euroföderalismus dementiert, zumindest bis zu dem Zeitpunkt,
an dem sich die gegenwärtige Wirtschaftslage erholt hat.
    Im letzten Monat ist es gelungen, drei ausgestorbene Tierarten
zurück ins Dasein zu befördern. Dem steht die