Accelerando
sicher
auch diesmal nicht schaffen, deshalb habe ich alles, was ich
übrig hatte, in ein Prämiengeschäft gesteckt. Wenn ich
das Geld jetzt herausnehme, hab ich große Verluste. Kannst du
mir bis zum Ende des Zyklus Aufschub geben?«
»Du müsstest es eigentlich besser wissen, als einer
Simulation zu vertrauen, Pee.« Ihr Avatar funkelt ihn mit der
ganzen Verachtung eines Mädchens an, das gerade ins
Teenageralter gekommen ist. Pierre, der Junge mit den Sommersprossen,
zieht unter diesem Blick den Kopf ein. Er ist erst zwölf und hat
noch nicht gelernt, dass man bei einer Abmachung den anderen niemals
verschaukeln darf. »Diesmal gebe ich nach«, verkündet
sie, »aber du wirst dafür bezahlen. Ich will
Zinsen.«
Er seufzt. »Welchen Zinssatz verlangst du
denn…«
»Nein, du zahlst die Zinsen persönlich! Als Sklave
für einen Zyklus!« Sie grinst hinterhältig.
Sein Gesicht nimmt plötzlich den Ausdruck böser
Vorahnung an. »Solange du mir nicht wieder befiehlst, das
Katzenklo sauber zu machen. Das hast du doch nicht vor,
oder?«
Willkommen im vierten Jahrzehnt. Die denkende Materie des
Sonnensystems hat inzwischen die Grenze von einem MIPS pro Gramm
– einer Million Instruktionen pro Sekunde –
überschritten. Sie ist zwar immer noch recht unintelligent,
aber nicht mehr völlig dumm. Mit neun Milliarden Menschen hat
die Bevölkerung fast ihren Höchststand erreicht,
allerdings tendiert die Wachstumsrate inzwischen zu negativen
Zahlen. Teile dessen, was man früher die Erste Welt nannte, haben es jetzt mit Menschen zu tun, deren
Durchschnittsalter in den mittleren Jahren liegt. Die
Denkfähigkeit der Menschen sorgt für rund
10 28 MIPS der gesamten Intelligenz im Sonnensystem. Die
wirkliche Denkarbeit verrichtet vor allem der Tross der tausend
Billionen Prozessoren, die im Dunstkreis der fleischlichen
Maschinen ihre Rechenleistungen erbringen. Jeder einzelne
Prozessor verfügt über ein Zehntel menschlicher
Gehirnkapazität, aber als Kollektiv sind sie zehntausendmal
leistungsfähiger, und ihre Zahl verdoppelt sich alle zwanzig
Millionen Sekunden. Sie stellen bereits 10 33 MIPS, und
ihre Kapazität erweitert sich ständig, auch wenn es noch
lange dauern wird, bis das Sonnensystem völlig erwacht ist.
Technologien kommen und gehen, aber noch vor fünf Jahren
hätte niemand vorauszusagen gewagt, dass eingedoste Primaten
heute Jupiters Umlaufbahn bevölkern. Eine Synergie aus neuen
Gewerben und seltsamen Unternehmensmodellen hat ein neues
Raumzeitalter in Gang gesetzt, unterstützt und
begünstigt durch die Entdeckung eines (bislang noch nicht
entschlüsselten) Signals Außerirdischer.
Trittbrettfahrer, mit denen niemand gerechnet hat, entwickeln am
Rande des menschlichen Kommunikationsraums neue ökologische
Nischen, nur Lichtminuten oder Lichtstunden vom inneren Kern
entfernt, denn jetzt wird die Expansion ins All, die seit den
Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts auf kleiner Flamme
gekocht hat, endlich in Angriff genommen.
Wie die meisten Post-Industrialisten an Bord des Waisenschiffs Ernst Sanger ist Amber (seit kurzem) ein Teenager.
Während bei vielen ihrer Altersgenossen mikrobische
genetische Rekombinationen die natürlichen Fähigkeiten
verstärken, kann Amber sich aufgrund der Wertvorstellungen,
die ihre Mutter bei und nach Geburt der Tochter hochgehalten hat,
nur auf gröbere Hilfsmittel stützen: auf Erweiterungen
ihrer Datenverarbeitungskapazität. Sie verfügt weder
über einen hinteren parietalen Cortex, der ihr ein besseres
Kurzzeitgedächtnis verschaffen könnte, noch über
einen vorderen rechten Gyrus cinguli, der so verändert ist,
dass er ihr eine erhöhte verbale Auffassungsgabe garantieren
würde. Allerdings ist sie mit Neuroimplantaten aufgewachsen,
die sie als ebenso natürlich empfindet wie ihre Lungen oder
Finger. Die Hälfte ihrer Wetware arbeitet außerhalb
ihres Schädels, und zwar mittels einer Reihe von Daten
verarbeitenden Knotenpunkten, die durch quantenverschränkte
Kommunikationskanäle direkt mit ihrem Gehirn verbunden sind.
Das ist ihr eigener, persönlicher Metacortex.
All diese Kinder an Bord sind junge Mutanten, in denen ein
helles Feuer lodert. Man kann nicht sagen, dass ihre Eltern sie
überhaupt nicht verstehen, aber der eigene Nachwuchs ist
ihnen doch sehr fremd. Die Kluft zwischen den Generationen ist so
tief wie die in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts und
so unermesslich wie das
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