Accelerando
Interessantes zu sehen gibt.«
Vielleicht hätte sie von ihm verlangen sollen, ihr
geschälte Weintrauben in den Mund zu stopfen oder ihr eine
Fußmassage zu verpassen – etwas, das üblicherweise
eher als hedonistisch gilt. Aber im Augenblick steigt ihr
Selbstwertgefühl schon durch das Wissen, dass sie über ihn,
über dieses bisschen entfremdete Arbeit, frei verfügen
kann. Während sie seine angespannten Arme und die Nackenkurve
betrachtet, denkt sie: Vielleicht ist doch was dran an diesem
Geflüster und Gekicher (»der ist echt in dich
verknallt«), das die älteren Mädchen so toll
finden…
Als das Fenster plötzlich wie ein Gong läutet,
hüstelt Pierre. »Du hast Post«, bemerkt er trocken.
»Soll ich sie dir vorlesen?«
»Was, zum…« Eine Nachricht rollt von rechts nach
links in Schlangenlinien über den Bildschirm. Die Schrift
ähnelt der auf dem 3-D-Drucker, der Amber zu Diensten ist,
zurzeit aber sicher in einem Schließfach in Zürich lagert.
Sie braucht eine Weile, um ein Übersetzungsprogramm
herunterzuladen, das sich im Arabischen auskennt, und eine weitere
Minute, bis sie die Nachricht begreift. Sofort danach beginnt sie
lauthals und anhaltend zu fluchen.
»Mom, du Miststück, warum musstest du mir das
antun?«
Der 3-D-Drucker wurde Amber in einer riesigen FedEx-Kiste mit
ihrer Adresse darauf zugestellt. Sie erinnert sich so genau daran,
als wäre es nur eine Stunde her. Es geschah an ihrem Geburtstag,
während ihre Mutter dienstlich unterwegs war. Sie weiß
noch, wie sie die Hand hochstreckte und den Daumen über das
Klemmbrett des Zustellers gleiten ließ. Wie die winzigen
Abtaster, die sich rau anfühlten, Proben ihrer DNA
entnahmen…
Sie schleppt die Kiste ins Haus. Als sie am Anhänger mit dem
Etikett zieht, packt sich die Kiste automatisch aus und enthüllt
einen kompakten 3-D-Drucker, einen halben Papierbogen, der mit
altmodischer nicht-interaktiver Tinte beschriftet ist, und eine
kleine buntscheckige Katze mit einem großen @-Symbol an der
Flanke. Die Katze springt aus der Kiste, streckt sich, schüttelt
den Kopf und starrt sie missmutig an. »Bist du Amber?«,
fragt sie halb knurrend, halb miauend. Sie macht tatsächlich
solche Geräusche wie eine echte Katze, allerdings weiß
Amber, was es damit auf sich hat: Die Katze kann direkt mit dem
Interface kommunizieren, das für Ambers Sprachkompetenz
zuständig ist.
»Ja«, erwidert sie schüchtern. »Hat Tante
Nette dich geschickt?«
»Nein, die verfluchte Zahnfee.« Die Katze beugt sich
vor, stupst mit dem Kopf an Ambers Knie und sondiert mit den
Geruchsdrüsen, die zwischen den Ohren sitzen, Ambers Rock.
»Hör mal, hast du Thunfisch in der Küche?«
»Nein, Mom hält nichts von Fischen und
Meeresfrüchten. Sie sagt, heutzutage sei alles nur schlechte
Ware, die im Ausland herangezüchtet wird. Hab ich dir schon
erzählt, dass ich heute Geburtstag habe?«
»Na, dann herzlichen Glückwunsch zu deinem blöden
Geburtstag.« Die Katze gähnt so überzeugend
natürlich, dass man sie kaum für eine K.I. halten
würde. »Hier ist das Geschenk deines Vaters. Der Mistkerl
hat mich in den Kälteschlaf versetzt und mitgeschickt, damit ich
dir zeige, wie das Geschenk funktioniert. Hör auf meinen Rat und
schmeiß das verdammte Ding auf den Müll. Es kommt
nämlich nichts Gutes dabei heraus.«
Amber unterbricht das Gebrummel der Katze, indem sie ausgelassen
in die Hände klatscht. »Was ist es denn überhaupt?
Eine neue Erfindung? Ein irres Sexspielzeug aus Amsterdam? Oder ein
Gewehr, damit ich Pastor Wallace erschießen kann?«
»Nee, nee.« Die Katze gähnt erneut und rollt sich
auf dem Fußboden neben dem 3-D-Drucker zusammen. »Ist
irgendein vertracktes Profi-Modell, das dich aus der Umklammerung
deiner Mutter befreien soll. Aber du passt besser auf damit: Dein
Vater hat gesagt, wenn man das Ding benutzt, bewegt man sich am Rande
der Legalität. Wenn deine Mutter herausfindet, wie es
funktioniert, heckt sie vielleicht einen Sabotageakt aus.«
»Wow, das ist echt cool.« In Wirklichkeit ist Amber
einfach froh, dass sie Geburtstag hat und allein zu Hause ist, weil
Mom arbeitet. Ihre einzige Gesellschaft ist das Fernsehen, das auf
den Modus der moralischen Mehrheit eingestellt ist. Seit Mom zu der
Auffassung gelangt ist, dass eine Durchschnittsdosis guter alter
Religion für Ambers Erziehung wesentlich ist, hat sich die Lage
ständig verschärft. Inzwischen ist es so weit, dass Amber
das Geschenk für das Tollste überhaupt hält,
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