Accelerando
eingeht.
Einsam und allein sitzt er in der beengenden, summenden
Raumstation und befasst sich mit dem Gesuch. Die Sprache ist
unbeholfen und weist alle Merkmale einer groben maschinellen
Übersetzung auf. Die Bittstellerin ist Amerikanerin und
behauptet – wie seltsam! –, Christin zu sein. Das ist schon
verblüffend genug, aber der Gegenstand ihrer Klage, will man ihn
für bare Münze nehmen, ist geradezu bizarr.
Sadeq zwingt sich dazu, erst sein Brot aufzuessen und danach den
Abfall in einer Tüte zu verstauen und den Teller zu
säubern, ehe er sich eingehend mit dem Gesuch befasst. Ist es
ein geschmackloser Scherz? Offenbar nicht. Als einziger Kadi jenseits der Umlaufbahn um den Mars ist er geradezu
prädestiniert, sich dieses Falles anzunehmen, der
tatsächlich nach Gerechtigkeit schreit.
Einem Ehemann, der nichts taugt und die Frau schon vor Jahren
verlassen hat, ist es aufgrund gewisser Machenschaften gelungen, ihr
das gemeinsame Kind zu nehmen. Die Frau lebt ein
gottesfürchtiges Leben – kein in jeder Hinsicht korrektes,
das sicher nicht, aber sie zeigt immerhin Anzeichen von Demut, und
einiges spricht dafür, dass sie sich um ein tieferes
Verständnis religiöser Dinge bemüht. Dass die Frau das
Kind allein aufgezogen hat, empfindet Sadeq als typisch westlich, und
er nimmt Anstoß daran. Allerdings kann man es ihr nachsehen,
wenn man liest, was sie über das Verhalten dieses Nichtsnutzes
von Ehemann schreibt, der offenbar ein Lotterleben führt.
Tatsächlich hätte jedes Kind, das von einem solchen Mann
großgezogen wird, ein schlimmes Schicksal zu erwarten. Der Mann
hat ihr das Kind nicht auf der Grundlage von Rechtsmitteln entrissen.
Weder hat er das Kind in seinen eigenen Haushalt aufgenommen noch
irgendwie versucht, es selbst gemäß eigener Vorstellungen
von Sitte und Anstand oder der Vorschriften der Scharia
großzuziehen. Stattdessen hat er die Tochter auf
hinterhältige Weise versklavt, indem er sich den Sumpf der
westlichen Rechtstradition zu Nutze gemacht hat, und sie dann ins
dunkle All hinauskatapultiert, wo zwielichtige Kräfte
angeblichen »Fortschritts« sie als Arbeiterin ausbeuten. Es
sind dieselben Kräfte, denen Sadeq als Vertreter der Umma in
Jupiters Umlaufbahn entgegenwirken soll, deswegen hat man ihn ja
hierher entsandt.
Nachdenklich kratzt sich Sadeq am kurzen Bart. Eine schlimme
Geschichte, aber was kann er tun? »Computer«, sagt er,
»folgende Antwort geht an die Bittstellerin: Sie können in
Ihrem Leid auf mein Mitgefühl zählen, allerdings sehe ich
nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Vor Gott (geheiligt sei sein Name)
schreit Ihr Herz nach Hilfe, aber hier handelt es sich mit Sicherheit
um eine Angelegenheit, mit der sich die weltlichen Autoritäten
des Dar al-Hab befassen sollten.« Er hält inne. Stimmt
das überhaupt? Erstellt sich vor, wie die Mühlen des
Gesetzes zu mahlen beginnen. »Falls Sie mir eine
Möglichkeit aufzeigen können, wie ich im Falle Ihrer
Tochter den vorrangigen Anspruch der Scharia geltend machen kann,
werde ich es übernehmen, einen entsprechenden Schriftsatz
auszuarbeiten, damit wir sie aus den Fesseln der Sklaverei befreien
können. Zum größeren Ruhme Gottes, geheiligt sei sein
Name. Ende. Signet. Senden.«
Sadeq löst die Klettgurte, die ihn am Tisch festgehalten
haben, treibt nach oben und befördert sich mittels
Fußtritten vorsichtig bis zum vorderen Ende des engen Habitats.
Die Steuerung des Teleskops befindet sich zwischen dem
Ultraschall-Kleidungsreiniger und Lithium-Hydroxid-Schrubbern. Sie
ist bereits eingeschaltet, weil er eine umfassende Exploration des
inneren Rings durchgeführt hat, um nach Spuren gefrorenen
Wassers zu suchen. Es ist nur Sache von Sekunden, das Navigations-
und Suchsystem in den Regler des Teleskops einzuspeisen und das
Fernrohr so auszurichten, dass es Jagd auf das große
Narrenschiff der Fremdlinge macht. Irgendetwas nagt an Sadeq und
verlangt dringend nach Klärung: Zu seinem Ärger wird ihm
bewusst, dass er in der E-Mail der Frau möglicherweise etwas
übersehen hat. Es waren mehrere umfangreiche Dateien
beigefügt.
Nur halb bei der Sache überfliegt er den Nachrichtendienst,
den seine gelehrten Kollegen ihm täglich übermitteln.
Währenddessen wartet er geduldig darauf, dass das Teleskop den
Lichtfleck des Schiffes ausmacht, auf dem die Tochter der armen Frau
als Sklavin gehalten wird.
Kann sein, so wird ihm klar, dass diese Geschichte ihm einen
Zugang eröffnet, die Möglichkeit, einen Dialog mit
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