Accra: Roman (German Edition)
gedämpfte Atmosphäre einer Bibliothek. In gewisser Weise war es auch eine, denn Bücherregale reichten an drei Wänden vom Boden bis zur Decke. Der große Mahagonischreibtisch war auf Hochglanz poliert, und gerahmte Abschlussurkunden und Auszeichnungen – Dawson zählte zehn – wiesen Doctor Botswe als brillanten Kopf aus. Da waren die University of Ghana, die Kwame Nkrumah University of Science and Technology, Oxford, Yale und mehrere prestigeträchtige Forschungsgesellschaften vertreten. An derselben Wand hingendrei gerahmte Fotos von Botswe mit einer Frau und drei halbwüchsigen Kindern.
Durch das große Fenster hatte man einen etwas anderen Blick in den Garten als vom Wohnzimmer aus. Obi breitete gerade eine Plane über den Gartenmöbeln aus, um sie vor dem angekündigten Regen zu schützen. Dem Himmel nach zu urteilen, würde er schneller kommen, als Dawson gedacht hatte.
Aus einem der Regale zog der Professor einen dicken Wälzer mit dem Titel Magie, Mord und Wahnsinn: Ritualmorde in Westafrika von Allen Botswe, Ph.D. Er brachte den Band zum Schreibtisch und zog Dawson einen Stuhl heran.
»Dies ist das ausführlichste Werk zu Ritualmorden, das ich habe.« Botswe überblätterte das erste Drittel des Buches und schlug eine Seite auf. »Die ersten Berichte über Menschenopfer für die Aschanti-Götter stammen aus den 1870ern, der britischen Kolonialzeit. Hier ist eine der sehr wenigen Zeichnungen einer Opferzeremonie von einem unbekannten Künstler.«
Botswe ließ Dawson ein paar Minuten, um das Bild zu studieren, ehe er weiterblätterte. »Einer der bestdokumentierten Fälle der neueren Zeit ist der Bridge-House-Mord im März 1945. Die Leiche eines zehnjährigen Mädchens wurde am Strand nahe Elmina gefunden, einem beliebten Badeplatz. Ihre Lippen, Wangen, Augen und die Geschlechtsteile waren entfernt worden. Das arme Mädchen war verblutet. Angeblich wurden die amputierten Körperteile benutzt, um eine sogenannte Medizin zuzubereiten, die jemandem in einem Stammesführerstreit helfen sollte.«
»Ein Menschenleben für eine Zankerei zwischen Stammesführern«, murmelte Dawson.
»Die Leute sind zu allem fähig«, sagte Botswe. »Fünf Männer wurden angeklagt, des vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden und gehängt. Auch im 21. Jahrhundert haben wir noch Beispiele für Ritualmorde. Und obwohl vor allem Nigeria berüchtigt dafür ist, kommen sie in Ghana vor.«
»Was macht einen Mord zu einem Ritualmord?«
»Es sind bestimmte Aspekte, die auf ein starkes Glaubenssystem ohne wissenschaftliche Grundlage verweisen. Es kann die Absicht dahinterstecken, einen magischen Trank zuzubereiten, wie im Bridge-House-Mord, die Götter zu beschwichtigen, oder, wie in manchen Fällen, der Glaube, dass ein bestimmtes Ritual zu Wohlstand verhilft.«
»Spielen bestimmte Körperteile eine größere Rolle als andere?«
»Ja, manchen wird eine besondere magische Kraft zugesprochen. Wenn Sie die Berichte über diese Morde lesen, wird klar, dass Köpfen, Brüsten, Lippen, Augen und Genitalien mehr Bedeutung zukommt als Gliedmaßen oder Teilen von Gliedmaßen.«
»Was halten Sie von dem Musa-Zakari-Fall?«
»Wir können nicht ausschließen, dass die Finger für den Mörder irgendeine rituelle Bedeutung haben«, sagte Botswe. »Aber da keine anderen Körperteile entfernt wurden, bin ich eher nicht geneigt, es als Ritualmord im eigentlichen Sinne zu betrachten.«
»Haben Sie eine Idee, was das Entfernen der Finger sonst bedeuten könnte?«
»Eigentlich nicht, außer dass die Finger für den Mörder aus irgendeinem Grund wichtig sein könnten oder er mit dem Mord etwas ausdrücken will. Wie der Name schon sagt, zeigen wir mit diesem Finger auf Dinge. Wenn wir eine ›Eins‹ darstellen wollen, strecken wir diesen Finger in die Höhe ... Oh, Moment mal!«
Er und Dawson sahen einander an.
»Könnte er sagen wollen, dass dieser Mord der erste in einer Serie ist?«, fragte Botswe.
»Würde er dann nicht eher den Zeigefinger zuerst, dann den Mittelfinger und so weiter abschneiden, bis alle weg sind, statt umgekehrt? So ist es doch, als würde er rückwärts zählen.«
Botswe strich sich über den Bart. »Oder, was auch eine Möglichkeit wäre – und das ist jetzt nur ein Gedanke –, der Täter huldigt dem gegenteiligen Phänomen, also der Reinkarnation oder Wiedergeburt. Bei manchen afrikanischen Völkern gilt der Tod als Ende eines Lebens und Eintritt in ein neues. Mit anderen Worten, der Mensch muss wiedergeboren
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