Accra: Roman (German Edition)
Männern und Frauen, die es geschafft hatten, Näherinnen, Tischler oder Kunsthandwerker zu werden. Ein Poster verkündete:
Freizeitraum
geöffnet von 8.00 – 17.00 Uhr.
RAUCHEN, TRINKEN, STREITEN
UND STEHLEN VERBOTEN
»Inspector Dawson?«
Er drehte sich zu der Stimme um, und ihm stockte der Atem. Die Frau war nur wenige Zentimeter kleiner als er, also außergewöhnlich groß, Anfang dreißig und sehr hübsch. Sie trug eine enge schwarze Hose und eine weiße Seidenbluse, die ihre runden Brüste sehr gut zur Geltung brachte. Ihre Haut war makellos und von der Farbe geschmolzener Schokolade. Das Haar hatte sie zu glatten, geraden Zöpfen gedreht und entweder gar kein oder nur ein sehr dezentes Make-up aufgelegt.
Dawson stand auf.
»Guten Morgen.« Sie lächelte und zeigte blitzend weiße Zähne. »Ich bin Genevieve Kusi.«
Sie gaben sich die Hand. Ihre war weich und schmal, die kurzen Nägel manikürt. Dawsons Augen bettelten darum, zu ihrem Hals und tiefer wandern zu dürfen.
»Willkommen bei SCOAR«, sagte sie. »Kommen Sie bitte mit mir.«
Sie gingen ein kleines Stück den Flur entlang zu ihrem Büro. Genevieve bot Dawson ein Wasser an, das er mit Freuden annahm. Der Raum war klein und auffallend ordentlich. Dawson bemerkte über der Tür zwei Lautsprecher, die zum Schreibtisch wiesen.
Genevieve setzte sich ihm gegenüber auf einen der drei Stühle im Büro. Dawsons Blick wurde kurz auf ihre perfekten Zehen mit den lackierten Nägeln gelenkt.
»Also, was kann ich für Sie tun, Inspector?« Sie hatte eine warme, volle Stimme.
»Heute Morgen wurde in Jamestown ein junger Mann tot aufgefunden. Er hatte eine Visitenkarte von Ihnen bei sich, daher dachte ich, dass Sie ihn vielleicht kennen.«
Er reichte ihr ein Foto des Jungen – nur von seinem Gesicht.
Erschrocken hielt sie sich eine Hand vor den Mund. »Oh, mein Gott! Das ist Ebenezer Sarpong.« Sie sah zu Dawson auf. »Er ist tot , sagen Sie? Wie? Was ist ihm zugestoßen?«
»Er wurde irgendwann letzte Nacht oder heute früh ermordet.«
» Ermordet «, hauchte sie. »Mein Gott!«
»Hat er hier gearbeitet?«
»Nein, er war ein Straßenkind – ein Schuhputzer. Er gehörte zu einer Gruppe von Jungen, die sich die Brooklyn Gang nennt. Ebenezer war ein, zwei Mal die Woche hier. Zuerst kam er nur, um sich im Freizeitraum auszuruhen, aber vor Kurzem fing er an, den Computer-Kurs zu besuchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist genau der Albtraum, vor dem wir Angst hatten.«
»Wie das?«
»Wir bieten den obdachlosen Kindern hier bei SCOAR tagsüber eine Zuflucht, aber abends schließen wir. Das heißt, über Nacht sind sie auf sich allein gestellt. Da draußen gibt es Diebe und Kämpfe um Reviere, Besitz und Mädchen. Wir haben schon länger gefürchtet, dass so etwas passieren würde.«
»Mir ist aufgefallen, dass hier Kinder jeden Alters sind, vom Baby bis zum Teenager. Woher kommen die alle?«
»Von der Straße. In Accra leben über sechzigtausend obdachlose Kinder. Manche Kinder sind aus anderen Gegenden Ghanas gekommen, um hier zu arbeiten. Andere sind aus Accra und von zu Hause weggelaufen – zum Beispiel weil sie missbraucht wurden. Und dann sind da noch die Kinder, die auf der Straße geboren wurden. Wir bezeichnen sie als die zweite Generation.«
»Sechzigtausend«, wiederholte Dawson. »Und um wie viele kümmern Sie sich hier?«
»Wir betreuen im Schnitt hundertzwanzig Kinder. Ein Tropfen auf den heißen Stein, ich weiß. Das Problem ist sehr viel größer, als unsere Möglichkeiten es sind.«
»War Ebenezer aus Accra?«
»Nein, aus einem Dorf im Westen, glaube ich.«
»Gab es jemanden, der seinen Tod wollte? Vielleicht jemand, der sich mit ihm um sein Revier stritt?«
»Mir fällt niemand ein, aber reden Sie am besten mit Patience, meiner Hauptkraft unter den Streetworkern. Sie kennt viele der Straßenkinder. Ich weiß allerdings nicht, ob sie vielleicht gerade unterwegs ist.« Genevieve sah zur Tür hinaus und bat einen Jungen, nach Patience zu suchen.
»Ja, Madam«, sagte er und verschwand.
Wenige Minuten später kam eine mollige Frau mit Brille herein. Sie hatte ein rundes, freundliches Gesicht, und Dawson mochte sie auf Anhieb.
»Komm rein, Patience«, sagte Genevieve. »Gut, dass duda bist. Dies ist Detective Inspector Dawson. Er bringt uns schlimme Neuigkeiten.«
Dawson schüttelte Patience die Hand, und sie holte sich einen Stuhl aus der Ecke.
»Was ist passiert?« Ihre Stimme klang süß und klar.
»Leider muss ich
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