Accra: Roman (German Edition)
Im Grunde verstehe ich ihre Argumente sogar. Nur haben wir es vielfach mit Jugendlichen zu tun, die lediglich eine begrenzte Zeit hier sind. Was sie betrifft, sind solche Erwartungen schlicht unrealistisch.«
Genevieve und Dawson bogen um eine Ecke und gingen in ein Klassenzimmer, in dem vier junge Teenager – drei Jungen und ein Mädchen – vollkommen konzentriert vor Computermonitoren saßen und unter der Aufsicht einer Lehrerin Wortspiele übten. Die Jungen trugen alle tief hängende Basketball-Shorts, und einer hatte einen freien Oberkörper. Das Mädchen hatte eine ärmellose Bluse und einen Wickelrock an.
»Dies sind arme Kinder, die auf der Straße in einer afrikanischen Stadt leben«, sagte Genevieve zu Dawson, »und dennoch mögen sie dieselben Computer- und Videospiele wie jedes verwöhnte Kind in den USA.«
»Bieten Sie ihnen auch traditionelle ghanaische Aktivitäten an?«
»Ja. Freitags zum Beispiel geben wir Trommel- und Tanzkurse.«
»Wofür hat Ebenezer sich besonders interessiert?«
»Er war Analphabet, als er nach Accra kam, lernte hier aber Lesen und Schreiben. Und er war ein guter Trommler.«
Dawson wurde bewusst, wie nahe er bei Genevieve stand. Sie trug ein leichtes Parfum, doch er roch auch den Eigenduft ihrer Haut: anders als Christines und ebenso berauschend. Sicherheitshalber ging er etwas auf Abstand.
»Kommen Sie mit, Inspector«, sagte Genevieve. »Es gibt noch viel mehr zu sehen.«
Neben dem Klassenzimmer war eine kleine Krankenstation, die von einer Schwester geleitet wurde. Diese beriet gerade eine Teenager-Mutter mit einem Baby auf dem Arm.
»Frühe Schwangerschaften machen es den Mädchen oft unmöglich, weiter zur Schule zu gehen«, sagte Genevieve, als sie in den ersten Stock stiegen, wo in einem Raum fünf Nähmaschinen standen. An zwei davon saßen Mädchen, die Nähen übten. Dahinter befand sich eine Holzwerkstatt, in der zwei Jungen traditionelle Masken aus frischem Mahagoni schnitzten.
Der Freizeitraum, von dem unten auf einem Plakat die Rede war, war der bisher größte Raum. Im vorderen Ruhebereich gab es keine Möbel, sondern nur Bodenmatten, auf denen etwa ein Dutzend Kinder lagen. Andere Kinder waren hinten im Freizeitbereich, wo sie Tischtennis oder Oware spielten, während wieder andere eine DVD guckten.
»Dies ist ihre Zuflucht vor den grausamen Straßen«, sagte Genevieve. »Manchmal führen die Kinder kleine Stücke auf oder veranstalten Gedicht- oder Rap-Wettbewerbe.«
»Sie leisten wirklich gute Arbeit«, sagte Dawson. »Ich bin beeindruckt.«
»Danke.«
»Gibt es hier jemals Prügeleien?«
»Selten. Weit seltener, als Sie vielleicht meinen.«
»Wäre es möglich, dass Musa Zakari auch hier war, Sie sich aber nicht an ihn erinnern?«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wir kennen unsere Jugendlichen.«
»Und Tedamm? War der mal hier?«
»Nein. Ich schätze, er ist zu sehr damit beschäftigt, Angst und Schrecken zu verbreiten.«
Als sie nach unten gingen, kam Dawson ein Gedanke.
»Kennen Sie einen neunjährigen Jungen namens Sly? Er kommt – oder kam – aus Agbogbloshie.«
»Nein, tut mir leid, den kenne ich nicht. Und an den Namen würde ich mich gewiss erinnern. Wer ist das?«
Dawson erzählte ihr, wie er Sly kennengelernt hatte und dieser dann mit seinem Onkel verschwunden war. In Socrates Büro saß jemand neben ihm vor dem Computer. Sein Aussehen war auffällig: Eine blasse, tiefe Narbe verlief von seinem Haaransatz bis zur Mitte der Stirn.
»Austin!«, rief Genevieve strahlend.
Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Hey, Schwesterchen. Wie geht’s dir?«
Die beiden umarmten sich.
»Darf ich dir Inspector Dawson vorstellen? Inspector, mein Bruder Austin.«
Beim Händeschütteln konzentrierte Dawson sich auf Austins Augen statt auf seine Stirn. Ein schwerer Unfall vielleicht? Austin war älter als Genevieve, und die beiden sahen sich kaum ähnlich, wenn überhaupt. Möglicherweise war er ein Halbbruder.
»Austin macht gerade seinen Ph.D. in Sozialwissenschaft. Sein Thema sind Gesellschaftsstrukturen bei Migrantengruppen in Accra«, erklärte Genevieve. »Und das schließt natürlich unsere Straßenkinder mit ein.«
»Alle Achtung«, sagte Dawson.
»Eigentlich war es meine Idee«, prahlte Genevieve lächelnd und sah ihren Bruder liebevoll an.
»Befassen Sie sich auch mit Kriminalität innerhalb der Migrantengruppen?«, fragte Dawson.
»Oh ja, und ob«, bestätigte Austin. Er sprach schnell und stolpernd, als würde ihn
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