Ach du lieber Schwesternschreck!
Füßen sind meine allerhässlichsten Turnschuhe. Die hab ich nur angezogen, damit Mama nicht fragt, warum ich sie nicht anhabe.
»Wie viele Stunden hast du heute?«, fragt Mama.
»Sechs«, sage ich. Ansonsten schweigt Mama wie verabredet und ich verschwinde und renne zu unserem Treffpunkt. Genau sieben Uhr.
Flo und ich stoßen fast zusammen. Er kommt von rechts, ich von links.
»Wir müssen den Brief wiederbekommen«, sagt er. »Schnell, wir müssen zur Post, ihn abfangen.« Flo hat rote Flecken im Gesicht, er prustet, ist außer Atem, rollt mit den Augen und wiederholt: »Wir müssen den Brief zurückbekommen. «
»Aber warum denn?«, frag ich Flo.
»Das bin nicht ich«, sagt Flo, »dieser Brief ist nicht von mir. Da kommt meine Persönlichkeit nicht heraus.«
Ich stehe da am frühen Morgen vor Flo auf der Straße. Ich bin fast noch nüchtern, mit drei Schluck Kakao im Magen steh ich da für eine Hilfsaktion, kneife mir in den Arm, ob das alles wirklich wahr ist. Aber es tut weh, also ist es wahr. Und Flo erzählt mir etwas von Persönlichkeit, die nicht genug rauskommt, und davon, dass das nicht sein Flo-Ich ist.
»Woher haste das?«, frag ich nur. Und mir schwant schon wieder Böses. Der hat bestimmt wieder tiefsinnige Gespräche seiner Eltern aufgeschnappt.
»Von mir, du Depp«, sagt er und fasst sich an die Stirn. »Wenn ich ihr schreibe: >Du, ich würde mit dir mal gerne ein Eis essen...<, kommt doch nichts von mir rüber, die weiß doch überhaupt nicht, wer ich bin.«
»Wie meinste das denn?«, frag ich. » Schließlich kennt sie dich doch schon seit zwei Jahren. Willste vielleicht ’nen Lebenslauf mitschicken oder den Stammbaum der Familie?«
Heute ist Flo mal nicht beleidigt. »Also, wenn schon«, sagt er, »dann hab ich mich entschlossen, ihr wirklich von mir zu schreiben und von meinen Gefühlen. Wenn ich mich verliebe, muss ich auch zu meiner Liebe stehen.«
Das ist wieder typisch Flo. Ehrlich. Blutsbruder auf immer und ewig.
»Ich muss ihr doch wenigstens sagen, was ich an ihr mag und was ich will.« Und er zieht einen Brief aus der Tasche und liest ihn mir vor: »Liebe Viola, ich glaube, ich hab dich gemocht, seitdem ich dich zum ersten Mal in der Klassentür gesehen habe. Aber ich war nicht ganz sicher. Doch jetzt bin ich es. Ich kann dir das sogar beschreiben und erklären. Ich bin ganz aufgeregt. Wenn du Nein sagen würdest, wäre das schlimm für mich. Bitte antworte mir bald! Ich warte! Flo.«
»Der Brief ist gut«, murmel ich.
»Der ist ehrlich, der riskiert was, das bin ich«, sagt Flo.
»Hört sich ziemlich klug an«, sage ich.
»Stimmt aber total. - Mensch, wir müssen los!«
»Und wohin?«
»Zur Post«, sagt Flo, »die Briefe austauschen.«
»Dann mal viel Glück«, murmel ich.
»Du gehst doch mit?«
»Klar - aber was ist mit der Schule?«
»Der Brief ist wichtiger. Ich sag Frau Sorge, was los war.«
»Einverstanden, aber wie willst du überhaupt an den Brief rankommen?«
Da zieht Flo wieder einen Zettel aus der Tasche mit der Adresse unseres Hauptpostamtes und dem Namen des Briefträgers, der in Violas Straße die Briefe austrägt. Den kannte seine Tante, die auch bei der Post arbeitet.
»Mensch, saugut, hast gute Arbeit geleistet, Kumpel«, sag ich. »Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?«
»So ’n bisschen«, grinst Flo. »Als ich alles erledigt hatte, konnte ich nicht einschlafen, musste immer an sie denken.« Flos Unterlippe zittert bedenklich.
Ich leg meinen Arm um Flos Schulter. »Verlass dich auf mich. Ich bin doch schließlich dein Blutsbruder.«
Flo hat auch schon die Buslinie herausgesucht, mit der wir direkt vorm Hauptpostamt landen.
Ich erinnere noch einmal an die Schule. Aber Flo, dieser Wahnsinnsknabe, ist auf dem Schulohr taub.
Schicksal, nimm deinen Lauf! Ich folge meinem Freund. Durch dick und dünn. Das ist so bei echten Kumpels.
Von weitem sehen wir Ole und Bosse zur Schule schlendern.
Wir grüßen bewusst cool und lässig. Denn die ganze Sache soll ja völlig geheim bleiben. Wenn die wüssten!
Der Bus rattert durch die von Menschen und Fahrzeugen gefüllten Rushhourstraßen. »Rushhour« ist echt englisch und heißt so viel wie »Hetz-Stunde«. So ähnlich komme ich mir auch vor: auf Hetzjagd hinter einem Brief her.
»Wie willst du das denn gleich machen?«
Flo gibt keine Antwort, hat gläserne Augen und kneift die Lippen zusammen. Ob er gerade an Viola denkt? So muss es sein. Flo im Rausch des Verliebten. Verdammt schwer, mit
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