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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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zu leben, wogegen sich mein ganzes Herz empört.«
    Nicht nur in diesem Zitat, im ganzen Stück wird die »Vernunft«, wird der »Verstand« als diejenige Macht beschworen, die den Menschen leiten soll. Wie bereits gesagt: Tieck hat seine beiden Blaubart-Texte hundert Jahre nach Perrault geschrieben. Das Bürgertum hatte sich mittlerweile gesellschaftlich-politisch durchgesetzt – die Aufklärung mit Werken von Voltaire, Diderot und Hume in ganz Europa Triumphe gefeiert, keine zwanzig Jahre war es her, dass Kant in seinem berühmten Aufsatz »Was ist Aufklärung?« die Bürger aufgefordert hatte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Und tatsächlich lautet der Rat, den Anne ihrer Schwester Agnes im letzten Akt gibt, als Blaubart ankündigt, dass er sie zur Strafe für ihren Ungehorsam töten werde: »Fasse dich nur, damit wenigstens die Rettung noch möglich ist, damit nur dein Verstand nicht leidet.«
    Doch die Rettung – und das ist die Pointe des Tieck’schen Blaubart-Dramas, mit dem sich der Autor als Anhänger der romantischen Vernunft-Skepsis erweist – die Rettung erfolgt nicht etwa, weil alle sich vernünftig verhielten: Sie erfolgt, weil Annes und Agnes’ Bruder Simon in der Nacht zuvor träumte, dass seine Schwester sich in höchster Not befinde. Nur mühsam gelingt es Simon, der durch das ganze Stück als melancholischer, mit den Grenzen der menschlichen Vernunft hadernder Charakter geistert, seinen rationalen Vater und Bruder davon zu überzeugen, dass sie seiner dunklen Ahnung Glauben schenken und tatsächlich zum Schloss des Blaubart reiten sollen. Und als habe es ihm selbst den größten Schrecken eingejagt, dass er mit seiner traumhaften »verrückten« Ahnung recht behalten hatte, weiß Simon seiner Schwester nach erfolgter Rettung nichts Besseres zu sagen als: »Tröste dich nur und fass deine Vernunft wieder zusammen.«
    Rhetorisch-ironisch wird die Vernunft wieder in ihr Recht gesetzt – aber dem Zuschauer bleibt klar, dass in diesem Drama die Rettung nur erfolgen konnte, weil einer sich nicht auf die Vernunft verlassen hat, sondern auf ihr Gegenteil, die Ahnung, den Traum, vertraute. Bei aller Anbetung von Vernunft und Verstand, wie sie die »positiven« Figuren in diesem Stück an den Tag legen, schwingt die Warnung des Autors mit: »Setzt nicht auf den Rationalismus allein, sonst seid ihr verloren.«
    Ebenso denkt Tieck – deutlich konsequenter als Perrault – weiter, wohin nicht nur die schrankenlos gewordene Vernunft, sondern auch die schrankenlose Neugier die Menschheit treibt. Nachdem er den »Verrat« seiner Gattin entdeckt hat, tobt der Blaubart Peter Berner: »Heuchlerische Schlange! [...] Verfluchte Neugier! Durch dich kam die erste Sünde in die unschuldige Welt, und immer noch lenkst du den Menschen zum Verbrechen. Seit Eva neugierig war, sind es alle ihre nichtswürdigen Töchter. [...] Man sollte euer ganzes Geschlecht von der Erde vertilgen. Das Weib, das neugierig ist, kann ihrem Mann nicht treu sein, der Mann, der ein neugieriges Weib hat, ist in keiner Stunde seines Lebens sicher. Neugier ist die Sünde, die jede andre nach sich zieht, denn der Verbrecher sieht kein Ende, keinen Augenblick, wo er mit seinen Erfahrungen stillestehn könnte. Die Neugier hat die entsetzlichsten Mordtaten hervorgebracht, sie war der Sturz der bösen Engel, sie verwandelt die beste Natur in eine schändliche.«
    Dieser Ausbruch Blaubarts ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zwar beginnt er mit der altbekannten Schmähung der weiblichen Neugier, der Geschichte von der Erbsünde, die durch Eva in die Welt gekommen sein soll – jedoch endet er bei nichts anderem als bei Blaubarts Rechtfertigung, die eigenen Verbrechen aufgrund von Neugier zu begehen. Denn es fällt schwer, die letzten beiden Sätze nicht auf Blaubart selbst zu beziehen – er ist der »Verbrecher, der kein Ende sieht«, »keinen Augenblick, wo er mit seinen Erfahrungen stillestehn könnte«, der »die entsetzlichsten Mordtaten« begangen hat.
    Anders als bei Perrault erfahren wir bei Tieck zum ersten Mal mehr darüber, wer dieser Blaubart ist, wie er sich selbst sieht, was ihn an- und umtreibt. Er begreift sich als gefallener Engel, mit dem Virus der Neugier infiziert, der von ebendieser Neugier dazu getrieben wird, Grenze um Grenze niederzureißen, bis er auch vor den physischen Grenzen anderer Menschen, den Grenzen von Frauenkörpern, keinen Halt mehr macht. Selbst wenn Tieck seinen Blaubart als »Raubritter«

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