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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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auftreten lässt, ist dieser weniger ein Relikt aus dunklen, voraufgeklärten Zeiten, weniger ein Gilles de Rais, der über Leib und Leben der ihm Unterworfenen nach Willkürlaune verfügen konnte – er ist vielmehr der Albtraum einer Amok laufenden Aufklärung, er öffnet den Blick in die Abgründe, in die die Neugier hinabführt, wenn sie Schicht für Schicht alles infrage stellt, keine Grenze, kein Verbot, kein »Du sollst nicht!« mehr als unhintergehbar akzeptiert, sondern immer noch weiter will, selbst wenn sie längst auf dem Grunde der Barbarei angekommen ist.
    Und ein zweites Motiv, das für spätere Blaubart-Bearbeitungen zentral werden sollte, taucht hier zum ersten Mal explizit auf: das Verbrechen, zu dem die weibliche Neugier – aus Sicht des Mannes – zwangsläufig führen muss, ist die Untreue. Der kurze Bogen, den Tiecks Blaubart vom »Verbrechen« der weiblichen Untreue zu seinen eigenen »entsetzlichsten Mordtaten« schlägt, ist dabei mehr als eine machistische Unverschämtheit. In ihm klingt das romantische Motiv an, dass der durch Ungehorsam gegen Gott, durch Trotz und Neugier gefallene Engel, der verfluchte Mann, nur durch eine Frau erlöst werden kann, die dem korrespondierenden weiblichen »Verbrechen« der Untreue widersteht.

Gefallener Engel sucht rettenden Engel
     
    Der unbestrittene Meister des »Erlösungsmotivs« ist Richard Wagner. Zwar hat er nie eine Blaubart-Oper geschrieben. Dennoch lohnt sich ein kurzer Ausflug, der nicht weit vom Blaubart wegführen wird, denn wer ist der Fliegende Holländer , wenn nicht ein enger Verwandter des Blaubärtigen?
    Zwar hat er kein Schloss, auf dem er seine Ehefrauen ermordet und in einer Kammer gesammelt hätte, dafür verrät er uns am Ende der Oper selbst, dass durch ihn bereits »zahllose Opfer«, sprich: Frauen, die ihn geheiratet haben, der »ew’gen Verdammnis« anheimgefallen seien. Wie Blaubart hat auch er unschätzbare Reichtümer angehäuft. Sein Verbrechen, das ihn zu einem Verfluchten der Weltmeere machte, bestand in seinem »tollen Mut«, bei »bösem Wind und Sturmes Wut« ein Kap umsegeln zu wollen. Dem unpassierbaren Meer schleuderte er ein »In Ewigkeit lass ich nicht ab!« entgegen und bewies damit, dass auch er einer ist, der keine Grenze, keine Autorität, seien es die Naturgewalten, sei es Gott, akzeptiert. Die Einzige, die ihn von dem Fluch erlösen könnte, wäre eine Frau, die ihm treu wäre bis in den Tod. Unzählige Male ist der Holländer von seinem Geisterschiff schon an Land gegangen, hat geheiratet, und jedes Mal haben die Frauen ihm die Treue gebrochen -wofür sie ihrerseits mit »ew’ger Verdammnis« bestraft wurden.
    Die Heldin der Oper, Senta, kennt die Sage vom Fliegenden Holländer seit ihrer Kindheit. Spätestens seit ihrer frühen Jugend träumt sie davon, diejenige zu sein, die den Verfluchten endlich erlösen darf. Die Frage, warum ein junges Mädchen von der Liebe nicht anders zu träumen weiß, als dass diese ihr mit großer Wahrscheinlichkeit den Tod bringen wird, sei fürs Erste offengelassen. Doch wie es die theatralische Fügung so will: Eines Tages steht der Holländer tatsächlich vor Senta. Ohne zu zögern schwört sie ihm »ew’ge Treue« und geht am Schluss, als er wütend in See stechen will, nachdem er erfahren hat, dass sie bereits mit Erik, dem Jäger, verlobt ist, tatsächlich ins Wasser, um für ihn zu sterben.
    In Wagners Oper wird der Mann zum Verbrecher, indem er sich in einem Akt der Selbstüberhebung gegen die göttliche Autorität auflehnt, die natürlichen Grenzen überschreitet. Aus diesem Zustand kann ihn nur eine Frau retten, die in völliger Selbstlosigkeit und Unterwürfigkeit bereit ist, sich für den Mann zu opfern. Die Wagner’sche Erlösungsutopie lässt sich unmittelbar an das anschließen, was das Perrault’schen Blaubart-Märchen über schlechtes Gewissen, Ängste und Selbstzweifel des entstehenden Bürgertums verraten hatte: Der Mann, der sich von Gott abwendet, wird zum radikalen Grenzüberschreiter. Unterschwellig ahnt er, dass seine Grenzüberschreitung den Charakter eines Verbrechens hat und eines Tages böse bestraft wird. Deshalb kommt der Frau die Rolle zu, Grenzen einzuhalten, keine Selbstüberhebung zu praktizieren, sondern mit ihrer Selbstlosigkeit die Verbindung zum alten Weltbild aufrechtzuerhalten: Sie soll akzeptieren, dass es Mächte gibt, die größer sind als sie selbst – und wenn es »nur« ein verfluchter Seemann ist -, sie soll sich diesen

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