Achilles Verse
er damit, bis ich den Laden verlassen habe.
»Kalt, wa«, sagt Sven, als ich den Ausdauertempel betrete. »Und glatt«, erwidere ich, »trainieren oder nicht?« Sven grinst: »Ich bin heute Morgen zwei Stunden gelaufen – alles eine Frage des Materials.« Er klopft auf eine Packung im Regal, an dem er lehnt. »Hier, skandinavische Funktionsunterwäsche, dreilagig atmungsaktiv, geht bis minus 25 Grad. Damit trainiert die norwegische Biathlon-Nationalmannschaft.« Sven kennt die Reizwörter genau, mit denen spontanes, unkontrolliertes Verlangen ausgelöst wird. »Und der Kopf?«, frage ich, »da friere ich immer besonders.« Sven angelt eine schwarze Gesichtsmaske hervor, perfekt für den Banküberfall. »Microfaser mit Optimized-Face-Temperature-Control-System. Habe ich auch. Ist echt super.«
Eine halbe Stunde später türmt sich ein Haufen atmungsaktiver Hightechfaser an der Kasse. Handschuhe, Pulswärmer, Mütze, Ohrenschützer, Nierengurt, alles auf Goretex-Basis, eine Winterjacke mit Top-Athlete-Climate-Management, und natürlich neue Laufschuhe (Alaska Polar Arctic High Endurance Power), weil die dicken Wintersocken (Extreme Performance Ultra) eine Nummer mehr erfordern. »Mit drei Prozent Stammkundenrabatt kommen wir auf 623 Euro«, sagt Sven beiläufig, »das ist ein Spitzenpreis.« Ich nicke. Keine Schwäche zeigen, Achilles. Material ist der halbe Erfolg. In elegantem Bogen landet meine Kreditkarte auf dem Klamottenberg.
Sven legt noch eine Packung Lebertrankapseln (»Holy Secret of the Inuit«) mit in die Tüte. »Super Zeug, schenke ich dir«, sagt er. Verdammt, da fällt mir ein, ich hatte das Wichtigste vergessen.
»Spikes?« Sven lacht höhnisch. »Lass den Quatsch. Damit versaust du dir die ganze Technik. Außerdem sind die schon seit Wochen ausverkauft.« Ich nicke. Klar, meine Technik, logisch. Danke, Sven, echt, du.
Es war nicht leicht, die große Tüte an Mona und Karl vorbei in den Keller zu schmuggeln. Als die beiden am Samstagnachmittag im Kino waren, fuhr ich in meine neuen feinen Laufsachen. Es dauerte etwa eine Dreiviertelstunde. Der Norweger hat sehr dünne Beine. Ich nicht. Die Nähte ächzten. Ich schwitzte. Die Gesichtsmaske steckte ich in die Tasche. Ich fühlte mich wie ein Teletubby, als ich zum Auto ging.
Am Schlachtensee waren Horden von Läufern unterwegs. Es war ungewohnt, mit all den Hochtechnologiefasern am Körper zu laufen. Man sollte die Strecke »Materialschlachtensee« nennen. Ich schwitzte wie ein Schwein. An der Treppe zum See-Café lag eine dicke Eisschicht, die alle Stufen gleichmäßig überzog. Die High Endurance Power meiner Alaskas stieß an ihre Grenzen. Ich kam ins Rutschen, verlor den Halt und klammerte mich an das Geländer. Der Schweiß, der aus meiner Gesichtsmaske lief, tupfte lustige Muster ins Eis.
Stufe für Stufe zog ich mich empor. Hinter mir hörte ich rhythmisches Klacken. Ein älterer Herr in einem Adidas-Trainingsanzug aus Herberger-Tagen sprang die Stufen hinauf. Er hatte diese Unterschnall-Spikes an den Füßen, wahrscheinlich noch aus seiner Zeit bei der Wehrmacht. Freundlich rief er mir zu: »Erkälten Sie sich nicht.« Blödmann. Mit deiner saumäßigen Technik würde ich lieber mal die Klappe halten.
Das innere Feuer
Eine Urangst des Läufers: Kälte. Weitab der Zivilisation steif gefroren im Graben zu liegen, die starren Finger in den Windbreaker verkrallt – wer möchte schon so sterben? Fakt ist allerdings auch: So gut wie nie ziehen sich Läufer zu dick an. Nach einigen frösteligen Anfangsminuten ist der Körper schnell auf einer angenehmen Betriebstemperatur, die bei stärkerer Kälte am sanften Dampfen oder gar an klimpernden Eisklötzchen in den Haaren zu erkennen ist. Mütze? Unbedingt, möglichst über die Stirn ziehen, wegen der Nebenhöhlen. Handschuhe? Geschmackssache. Dicke Socken? Dito. Goretex-Jacke? Starkschwitzer werden in den bunten Tüten zerlaufen, für Schwachschwitzer ist die Jacke okay. Geheimtipp: Nierengurt. Gibt es aus dünnem Stretchmaterial im Radbedarf, trägt kaum auf, zwingt sogar die Wampe in Form und verhindert die Schweißkälte über dem Hinterteil. Ansonsten: Die Panik vor der Kälte ist erheblich schlimmer als die Kälte selbst. Statistisch gesehen sind weit mehr Läufer an Überhitzung als an Erfrierungen eingegangen.
Schon der Gedanke ans Geldverdienen ist Verrat. Dem Läufer ist sein Sport heilig, Ehre, Kraft, Mut, Ausdauer. Werbung am Mann ist Betrug an der Bewegung – aber eben auch
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