Achilles Verse
hatte in einem unerwarteten Aufräumwahn meine besten Laufschuhe einfach weggeworfen. Zugegeben, sie waren etwas speckig. Aber die Sohle war noch halbwegs in Ordnung, die meisten Nähte waren nicht mal ganz aufgerissen. Und die einstige Farbe, ich glaube, es war Senf oder so ein zarter Leberwurst-Ton, der war auch
noch gut zu erkennen. Die Innensohle bestand aus drei Stücken, was man aber kaum merkte, weil sie mit der Untersohle eine chemische Verbindung eingegangen waren, die wohl was mit menschlicher Abwärme zu tun haben musste.
Jedenfalls rochen sie praktisch nicht. Ich habe sie ein Dutzend Mal in der Waschmaschine gehabt. Einmal mit Monas Unterwäsche, der guten. Dafür hätte sie mich am liebsten mit meiner kompletten Sammlung von Runners-World-Heften um den Hals von einer Autobahnbrücke geschubst, wenn ich nicht rechtzeitig zu einem langen Lauf gestartet wäre.
Es dauert ewig, bis Schuhe diese Patina haben. Die muss man sich erarbeiten, Schritt für Schritt, Pfütze für Pfütze, Fußschweißschwall für Fußschweißschwall. Solche Schuhe kann man nicht einfach wegwerfen, die werden doch heute gar nicht mehr hergestellt. Das ist wie mit dem TE 220, Jahrgang 95. Danach hat Daimler nur noch Pappkarren gebaut.
An diesen Schuhen hängt ein Läuferleben: mein erster Marathon. Meine Bänderdehnung. Die gazellengleiche Flucht vor dem Drecksköter. Das Tom-Petty-Konzert. Ungezählte Durch- und Regenfälle. Bestimmt habe ich Mona sogar in den Schuhen geknutscht. Diese Treter erzählen von all den Aufs und Abs, den Schnells und Nochschnellers, dem harten, nie enden wollenden Asphalt, den der einsame Läufer mit zenartiger Gleichmut nimmt. Was wissen Frauen schon von uns rennenden Cowboys? Sie mutmaßen allenfalls, dass ein Läufer seine Schuhe mehr liebt als seine Frau. Stimmt ja auch.
Mona also ging mit meinen Fußfreunden ungefähr so um wie mit einer Nebenbuhlerin: Sie trat sie in die Tonne, ganz tief. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass ich sie dabei beobachtet hatte, aus unserem kleinen Klofenster, das zum Hof weist. Während ich tapfer das Mantra »Hinsetzen« standhaft ignorierte, spähte ich hinaus zum Fenster und sah, wie meine Frau, sich verschlagen umblickend, um die Mülltonnen schlich. Sie weiß nicht, dass man die Tonnen von oben sehen kann, weil sie nie im Stehen
pinkelt. Womit bewiesen wäre, dass Stehpinkler klüger sind, weil sie Informationsvorsprünge haben.
Ich beobachtete, wie sie mit einem Gummihandschuh etwas Senffarbenes aus einer Tüte zerrte und tief in die Mülltonne stopfte. Ich erkannte meine Lieblingsschuhe sofort, auch wenn ich sie länger nicht mehr getragen hatte. Heute kam die Müllabfuhr, Mona hatte ihr Attentat auf meine Läuferseele akribisch geplant.
Fröhlich pfeifend kam sie die Treppe hinauf, drang in mein Arbeitszimmer und fragte mit powerbar-süßem Lächeln: »Soll ich dir einen Kaffee machen, Schatz?« Ich entgegnete: »Aber gern, Liebes, ich muss nur rasch runter, eine Zeitung holen.« Draußen auf der Straße hörte ich den Müllwagen rumpeln. Ich hetzte die Stufen hinab. Es muss bizarr ausgesehen haben, als ich halb in der Mülltonne verschwunden war. Der alte Meier krächzte von seinem Kissen aus dem Fenster: »Na, suchen Se Ihre Unschuld?«, während die Müllmänner in den Hof stampften.
»Noch nicht gefrühstückt?«, fragte der Dickere. »Äh, also, mir ist da was reingefallen«, stammelte ich. Natürlich standen alle Nachbarn hinter ihren Gardinen und glotzten. Außer Mona, die kochte vorne Kaffee. »Solln wa die Tonne hier lassen? Dann könnse gründlich kucken«, fragte der Dünnere. »Nicht so wichtig«, sagte ich und klaubte mir einen gebrauchten Teebeutel vom Ärmel. Die Tonne mit meinen Lieblingen rumpelte davon. Ich hob die Hand zum letzten Gruß. Ich werde euch vermissen, meine beiden Freunde.
Jede Socke erzählt eine Geschichte
Wer länger läuft, bekommt zwangsläufig ein Problem namens Equipment-Overload. Ein halbes Dutzend Schuhe für unterschiedliche Untergründe, acht Hosen für diverse Klimazonen, dünne, mittlere und dicke Hemden, die sich mit den entsprechenden Jacken kombinieren lassen zu unzähligen auf Zehntelgrade abgestimmten Zwiebelschichten. Und die Mützen, die Brustgurte, die Vaselinepötte, Power-Gel-Beutel vom letzten Jahr, die Regenjacke, etwa ein Dutzend Socken, Stirnbänder, Sicherheitsnadeln, der Zeitmess-Chip, ach ja, und die Finisher-T-Shirts von allen Wettbewerben.
Schon richtig: Man wird nicht alle diese
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