Acornas Welt
ein Knirschen und ein Keuchen und dann ein Geräusch, als würde die Luft aus etwas herausgelassen.
»Du wagst dich wohl nur an kleine Mädchen, du Stück Dreck«, rief Thariinye. »Warum bindest du mich nicht wieder mit deinem Schleim an einen Baum?«
Er hatte aus Maatis Beispiel gelernt, denn seine Stimme wurde ein wenig leiser, und Acorna hörte, wie er beim Rückzug Zweige zertrat. Der Khleev sprang – und sie war frei.
Zumindest für einen Augenblick.
Sie beugte sich vor und rieb sich mit dem Horn über das Bein, nachdem sie die Knochen zurechtgerückt hatte. Der Schmerz ließ sofort nach, aber sie musste sich ganz auf den Heilungsprozess konzentrieren und konnte nicht mehr darauf achten, was um sie herum vorging. Kostbare Augenblicke lang hatte sie keine Ahnung, ob Maati noch lebte, ob Thariinye der Gefangenschaft entgangen war, ob er den Khleev hatte weit genug weglocken können, oder ob das Ungeheuer diesmal auf ihren Kopf treten würde.
Sobald der Knochen wieder zusammengewachsen war, stand Acorna auf, und sie sah gerade noch, wie der Khleev mit der Fresszange nach dem umhertänzelnden Thariinye griff.
Thariinye schrie auf, und Acorna packte den nächstbesten Gegenstand – einen Stein, der unter ihr auf dem Boden gelegen hatte – und warf ihn nach dem Ungeheuer.
Diesmal ließ sich der Khleev nicht so schnell ablenken. Er schlug mit den rasiermesserscharfen Zangenbacken nach Thariinye und riss ihm damit grausame Wunden an den erhobenen Händen und Armen. Acorna sprang über den umgestürzten Baumstamm und drosch mit den Fäusten auf den Panzer des Geschöpfes ein, während die herzzerreißenden Schreie ihres ehemaligen Schiffskameraden ihr in den Ohren gellten.
»Lass ihn los! Lass los!«, weinte sie.
Der Khleev ließ tatsächlich los, und Thariinye, der aus vielen Wunden blutete, fiel wie eine Lumpenpuppe dicht neben der leblosen Maati zu Boden. Acorna drehte sich um und rannte los.
Der Khleev wandte sich Acorna zu, und seine Zange schnappte nach ihr. Nur ein einziger Baum stand noch zwischen ihnen. Dann war mit einem Schmatzen und einem stinkenden Windstoß auch der Baum verschwunden. Acorna drehte sich abermals um und rannte, und diesmal sprang sie über den umgestürzten Baum, sodass der Stamm zwischen ihr und dem Khleev war. Sie wich Wedel um Wedel aus, doch das Grün verschwand einfach im Maul des Khleev und erschien sofort danach wieder hinter ihm als weiterer Teil der stinkenden Spur.
Es sah beinahe so aus, als lächelte der Khleev, als er den letzten Bissen von dem Baumstamm nahm; er schien Acorna verhöhnen zu wollen, indem er mit ihrem letzten Schutz spielte. Sie lief weiter, rief im Geist nach Maati und Thariinye, hoffte auf eine Antwort, aber sie drängte sie auch, still liegen zu bleiben.
Nun war der Khleev mit dem Baumstamm fertig. Acorna wich gegen einen weiteren Baum zurück. Das Ungeheuer folgte ihr, nahm erst einen Bissen und dann noch einen von den Wedeln, die Acorna schützend vor sich schob. Das Spiel schien ihm zu gefallen.
Acorna schrie auf, als die Zange nur ein paar Zentimeter vor ihrem Gesicht zuschnappte. Noch einmal schnappte der Khleev, dann hob er die Zange höher, dicht an ihr Horn. Sie duckte sich und versuchte, zwischen seinen Hinterbeinen hindurchzuschlüpfen.
Plötzlich entdeckte sie aus dem Augenwinkel etwas Weißes, Verschwommenes. Der Khleev fiel rückwärts, umgerissen von einem Liinyar, der das Ungeheuer zu Boden drückte, seinerseits umklammert von zappelnden Beinen und Zangen.
(Lauf, Khornya.) Aaris Stimme erklang in ihrem Geist, doch es war alles andere als ein Flüstern. (Hol Joh. Hol Waffen. Ich werde den Khleev so lange wie möglich beschäftigen, aber du musst dich und meine Schwester retten.) (Du kommst alleine nicht gegen ihn an, Aari.) (Nein, aber ich kann ihn aufhalten. Lauf!) (Er wird dich umbringen!)
(Ich bin doch ohnehin schon ein Kadaver.) Sie rannte durch den Wald und schrie nach Becker, schrie die Namen ihrer Freunde.
Sehr zu ihrer Überraschung kamen ihr Becker und Mac bereits durch den Wald entgegengerannt. Beide schwangen Waffen, und Becker brüllte: »Wo ist er? Zeig in die Richtung, und duck dich!«
Sie drehte sich um und rannte wieder auf Aari zu, der sich zu ihrer Überraschung unverletzt aus den eng gefalteten Khleev-Beinen aufrichtete. Das Geschöpf versuchte nicht, ihn aufzuhalten oder zu verletzen. Stattdessen blieb es am Boden liegen und gab dasselbe schrille »iii-iii-iii« von sich wie ihr Gefangener auf dem Schiff.
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